Donnerstag, 3. Dezember 2015

Jenseits des Ganges



Aber es gibt auch Schönes in Indien. Eine Sache beispielsweise, die ich mit jedem Tag, den ich in der größten Demokratie der Welt verbringe, immer mehr wertschätze, ist diese: Indien ist ein unglaublich farbenfrohes Land. Es sind Farben überall. Die Häuserfassaden, die traditionelle Kleidung, die Verkaufsstände entlang der Straßen, auf denen es nicht minder bunt zugeht: Von allen Seiten Farben, in einer Menge, die beizeiten kaum zu verarbeiten ist.

Eine andere Sache ist die indische Küche. Chicken Masala, Palak Paneer, Dal, Biryani, Tandoori Roti, Gulab Jamun, dazu Lassi und jede Menge Masala Chai. Hmmmmm, leckerleckerlecker. Oder auch gewisse alltägliche Dinge. Dass man quasi ständig um den Preis verhandeln muss, finde ich nicht wirklich schlimm, sondern ab und zu sogar ganz lustig. (Ich bin in der Hinsicht während der letzten Monate aber auch durch eine harte Schule gegangen und würde in aller Bescheidenheit behaupten, dass ich im Verhandeln mittlerweile ganz gut bin - danke, Iran!) Auch die öffentlichen Transportmittel sind eigentlich richtig gut. Man muss zwar schon enorm blauäugig sein, wenn man erwartet, dass hier ein Zug mal zeitig abfährt, geschweige denn ankommt. Aber abgesehen davon ist es wirklich einfach, und zudem auch noch richtig günstig, von Ort zu Ort zu gelangen.

Oder der Verkehr, ja genau, der indische Verkehr, hat auch was. Natürlich ist er laut und nervenaufreibend und eine exemplarische Fallstudie in "survival of the fittest" - aber er funktioniert! Was ich damit meine ist: Die Situationen, die man hier im Straßenverkehr teilweise mitbekommt, würden sich in Belgien/Deutschland/usw. niemals ohne ein umständliches Polizeiaufgebot auflösen - in Indien läuft das aber einfach. Der Trick liegt darin, dass hier nicht gehupt wird, um Dampf abzulassen (wie das bei uns oft der Fall ist), sondern um zu kommunizieren. Es ist zwar für Fußgänger nicht immer angenehm, durch den Verkehr zu gehen, da hier dauernd kommuniziert wird, aber eine gewisse Effizienz kann ich dem Ganzen nicht absprechen. Ich könnte mir beinahe vorstellen, dass es hier auch blinde Autofahrer gibt, die sich nur anhand der Hupsignale orientieren. Und auch die Inder sind, wenn sie einem gerade nichts verkaufen wollen, schwer in Ordnung.

Woher dieser Sinneswandel? Nun, zum einen denke ich, dass ich mich an einige Dinge einfach gewöhnt habe. Zum anderen habe ich die letzten Tage auch in eher ruhigen Ecken des Landes verbracht (d.h. natürlich ruhig nach indischen Standards). Nach vier Tagen in Varanasi, einem der heiligsten religiösen Orte der Welt, der mich irgendwie ziemlich kaltgelassen hat, und drei krankheitsbedingt eingelegten Tagen in Allahabad, einer Stadt, die man sich getrost sparen kann, egal was im Reiseführer steht, geht es weiter nach Chitrakoot. Hierbei handelt es sich um einen weiteren Ort von großer Bedeutung in der hinduistischen Mythologie und einen wichtigen Pilgerort für gläubige Hindus. Was mich nicht zuletzt an dieser Stadt reizt: Hier leben nur knapp 50.000 Menschen! Eine Kleinstadt in Indien! Nachdem mir die zwei Millionenstädte nicht gefallen haben, frage ich mich: Ist das vielleicht möglich - ein Ort in Indien, wo es so etwas wie Ruhe gibt? Die Antwort: ja und nein. Chitrakoot ist zwar ruhiger als Varanasi (Kunststück!), aufgrund seiner religiösen Bedeutung zieht es aber dieselben Menschenmassen an. Die Stadt, in der ich keinen anderen westlichen Touristen zu Gesicht bekomme, ist am Mandakini-Fluß gelegen, dessen Ufer durch die vielen Tempel geprägt sind, die dem Ort die Bezeichnung "Mini-Varanasi" eingebracht haben. Tatsächlich ist Chitrakoot auch der erste Ort in Indien, der mir gefällt.

Weiter nach Khajuraho. Wieder eine Busfahrt von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang mit zwei Mal umsteigen. Unterwegs habe ich eine Stunde lang eine recht interessante Unterhaltung mit einem indischen Bezirksrichter auf dem Weg zur Arbeit. Als er erfährt, dass ich Belgier bin, kommt er mit einigen doch recht spezifischen Fragen. Die, die ich behalten habe:
1. Aus welchen Ländern importiert Belgien hauptsächlich seine Elektronik-Artikel?
2. Wie viel Prozent der belgischen Agrarwirtschaft sind privatisiert?
3. Wie positioniert sich die belgische Regierung bzgl. des Bürgerkrieges in der Ukraine?
4. Wie stehst du zur Spiritualität?
Mein lieber Schwan, damit habe ich wohl nicht gerechnet! Wusste eigentlich nicht, dass überhaupt jemand sich solche Fragen stellt. Ist allerdings auch recht nett, mit einem Einheimischen eine Unterhaltung zu führen, die nicht hauptsächlich daraus besteht, dass ich mich dafür rechtfertigen muss, nicht verheiratet zu sein.

Während der Fahrt nach Khajuraho überquere ich zum ersten Mal in Indien eine Staatsgrenze und wechsle von Uttar Pradesh nach Madhya Pradesh. Langsam machen sich einige Änderungen bemerkbar. Das Terrain wird ein wenig hügeliger und trockener, die bewohnten Gebiete geben sich nicht mehr einander die Hand, die Dörfer wirken irgendwie bunter, und selbst die Luft sieht ein wenig klarer aus. Dafür wird aber die Straße schlechter. Irgendwann sehe ich ein Straßenschild, demzufolge Khajuraho noch 24 Kilometer von uns entfernt ist. 30 Minuten vergehen, 45 Minuten, 1 Stunde, anderthalb... Als ich schon denke, wir kommen nie an oder sind schon längst dran vorbei, hält der Bus an, alle steigen aus. Während ich noch dabei bin, meinen Rucksack aufzusetzen, kommt ein junger Mann zu rauf zu mir, einige andere stellen sich vor dem Bus und rufen mir Dinge zu wie:
"Auto-Riksha, Sir?"
"Hotel, guesthouse, Sir?"
"Need good restaurant, Sir?"
"Taxi, Sir?"
"Want a guide, Sir?"
Schaut so aus, als wäre ich angekommen! Nichts wie weg hier!

Khajuraho ist ein kleiner Ort in ländlicher Umgebung, der vor allem für seine vielen gut erhaltenen, zum UNESCO-Kulturwelterbe gehörenden Tempel bekannt sind. Die Außenmauern dieser Tempel sind bildhauerisch sehr fein bearbeitet und enthalten eine Unmenge an Statuen, die.., ich sage mal, thematisch ungefähr genau so pikant sind wie das indische Essen. Nachdem ich in meinem Hostel eingecheckt habe, freunde ich mich in einem Restaurant mit einem jungen Inder an, mit dem ich mich für eine Motorrad-Tour am folgenden Tag verabrede. Wir verbringen beinahe den ganzen Tag damit, per Bike die verschiedenen, in der Gegend verteilten Tempel zu besuchen. Später fahren wir noch aufs Land und machen mal Rast an einem Fluss, an dem es Krokodile geben soll, die wir allerding leider/zum Glück (?) nicht zu Gesicht bekommen.

Khajuraho gefällt mir sehr gut. Auf einen Tag hat man zwar alles gesehen, aber aufgrund der ruhigen, entspannten Atmosphäre der Stadt, ebenso wie der Tatsache, dass ich hier mal Inder kennengelernt habe, die nicht irgendwie an meine Kohle ranwollen, bleibe ich drei Tage hier. Am letzten Abend vor meiner Abreise bin ich dann bei jemandem zuhause zum Abendessen eingeladen; alles was wir machen müssen, ist im Vorfeld etwas Hühnchen zu besorgen. Naiver europäischer Städter, der ich bin, gehe ich natürlich anfangs davon aus, dass wir bei einem Metzger mehrere hundert Gram fertig zubereitetes Fleisch kaufen gehen. Aber das ist Indien - wir fahren zu einem Laden, der komplett mit voll belegten Hühnerkäfigen ausgestattet ist, der Besitzer holt zwei Hühner aus dem Käfig, wiegt sie ab, nennt uns einen Preis, die Hühner scheinen zu wissen, was jetzt kommt, und machen einen letzten verzweifelten Versuch wegzuflattern, das Messer liegt auch schon bereit, und zack - wird den beiden der kurze Prozess gemacht. (Als jemand, der ausgesprochen wenig Fleisch isst, muss ich sagen: Dabei sein, wenn das eigene Abendessen geschlachtet wird - finde ich eigentlich nicht schlecht. Da weiß man zumindest, was man isst.)

Weiter nach Orcha. Nachdem mich eine meiner frisch geschlossenen indischen Bekanntschaften mit dem Motorrad zum Bahnhof gebracht hat (mein Zug geht um 8, seine Arbeit startet um 6; aber was sind schon zwei Stunden Verspätung?), nehme ich zum ersten Mal in Indien, und zum zweiten Mal nur auf meiner Weltreise, den Zug. Orcha ist ein weiteres nicht an Überbevölkerung leidendes Städtchen von 10.000 Einwohnern (laut Guidebook ist es sogar nur ein Dorf), in dem es einige schöne Tempel und einen riesigen Palast zu bestaunen gibt. Dass ich nach Varanasi beschlossen habe, auch in etwas kleineren Orten Halt zu machen, erscheint mir immer mehr als eine gute Idee. Es ist hier einfach sehr viel angenehmer. Ganz ohne Gehupe und "Riksha, Sir?" geht es zwar nicht, aber mein Pauschalurteil vom letzten Mal muss ich doch ein wenig abändern: Es ist nicht überall so schlimm wie in der Gospertstraße.

Rote Festung, Agra
Weiter nach Agra. Wieder Uttar Pradesh, wieder eine Großstadt, und sehr vielen Backpackern zufolge die Hölle auf Erden. Ich finde es eigentlich halb so wild. Es stimmt zwar, dass Agra keine Unmengen an Charme zu besitzen scheint, und dass man alle paar Sekunden den Satz "No, thank you" benutzen muss; aber zumindest die Touristen-Area, in der sich mein Hostel befindet, ist eigentlich sehr ruhig, und es gibt sogar einige Parks, hey, das ist doch auch mal was. Aber das Highlight der Stadt ist natürlich das Juwel des Landes, eines der bekanntesten Bauwerke der Welt, eines der sieben modernen Weltwunder, die "Verkörperung alles Reinen" (nach Rudyard Kipling): das Taj Mahal.

Bis zuletzt bin ich davon ausgegangen, dass mich das Taj Mahal enttäuschen würde. Ein Touristenmagnet, der sich als überteuert und überbewertet erweisen würde, wie der Eiffelturm zum Beispiel (nur meine Meinung natürlich). Bis zuletzt habe ich nichts Besonderes erwartet. Aber es ist wirklich schön. Als ich das weiße Mausoleum zum ersten Mal erblicke, brauche ich zuerst mal etwas Zeit, um zu begreifen, dass das da echt ist. Das richtige Taj Mahal. Ein paar Franzosen hinter mir sehen das aber anders: "Bof, c'est nul!" - "Je suis déçue!" Leute.. ehrlich..?

Nochmal ein Beweisfoto, dass ich es bin
Während des Sonnenaufgangs ist noch nicht so viel los im Park um den Taj Mahal, wo ganz anders als außerhalb der Eintrittspforten strengste Sauberkeitsregeln gelten. Ich setze mich auf eine Bank und schaue mir dieses Meisterwerk mehrere Minuten einfach nur mal an. Einen Wermutstropfen gibt es leider doch (und da haben die Franzosen wahrscheinlich schon recht): das Wetter - kein blauer Himmel, kein magischer Sonenaufgang. Tatsächlich deutet nur ein kleiner orangeroter Punkt hinter dem kilometerdicken Smogfilter an, dass auch über Indien die Sone scheint. Trotzdem: Wow!

Sooooo, das waren meine zweite und meine dritte Woche in Indien, und meine erste Woche wurde hier doch um Welten getoppt. Es chaotisch hier, es ist laut, es ist verrückt; aber es macht so viel Spaß, in diesem Land zu sein, das ist kaum zu beschreiben. Und darum mache ich heute an dieser Stelle Schluss. Liebe Grüsse von bei den Bekloppten!

Chitrakoot

Chitrakoot

Chitrakoot

Tempel in Khajuraho

Khajuraho

Da gibt's Krokodile!


Orcha

Orcha

Orcha

Orcha

Aussicht von der Roten Festung

Das Taj Mahal und viel indische Luft


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