Montag, 28. März 2016

Western Cape


Nach Indien in Südafrika anzukommen war ein Schock.

Auf dem Papier haben die beiden Länder eigentlich viel gemeinsam. Beides sind sehr große und vielseitige Länder, in der es unglaublich viele offizielle Sprachen gibt (Indien: 24, Südafrika: 11). Beide Länder sind mitunter ehemalige britische Kolonien, dementsprechend wird in beiden Ländern Englisch mit einem sehr lustigen Akzent gesprochen. Die Geschichte beider Länder wird zum einen mit einem sehr grausamen und ungerechten gesellschaftlichen System verbunden (Indien: Kastensystem, Südafrika: Apartheid), zum anderen mit jeweils einer der bedeutendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts (Mahatma Gandhi/Nelson Mandela). Und a propos Gandhi, in welchem Land hat er neben Indien die meiste Zeit verbracht? Genau, in Südafrika. In beiden Ländern gibt es jeweils eines der wichtigsten finanziellen und wirtschaftlichen Zentren den Dritten Welt (Mumbai/Johannesburg), in beiden Ländern gibt es viele Inder, beide Länder haben eine gute Cricket-Nationalmanschaft, in beiden Ländern gibt es eine große Disparität zwischen Arm und Reich, beide Länder bilden das südliche Ende von irgend etwas. Und in beiden Ländern ticken die Uhren anders als bei uns.

Was das reine Reisegefühl betrifft, ist Südafrika allerdings das genaue Gegenteil von Indien.

In Südafrika:
- sind die Straßen sauber.
- kann man quasi überall mit Kreditkarte bezahlen.
- leben weitaus weniger Menschen pro Quadratmeter als in Indien (selbst im Vergleich zu europäischen Städten wirkt das Zentrum von Kapstadt ab und zu ziemlich leer).
- kann man nicht so gut mit den Öffentlichen rumkommen.
- gibt es keine Tuktuks.
- ist die Luft, die man atmet, um Welten sauberer als die in Indien.
- wird man selten blöd angemacht.
- isst man beinahe nichts anderes als Fleisch (während die Kost in Indien oft vegetarisch ist).
- gibt es Supermärkte.
- hupt man als Autofahrer (wenn überhaupt) nur, wenn man sagen willl: "Pass doch auf, du Penner!" Endlich wieder normale Umgangsformen.

Nach beinahe vier Monaten in Indien komme ich also in Kapstadt an und erfahre hier den bisher größten Kulturschock meiner Reise. Plötzlich ist alles so sauber und ruhig! Und das soll Afrika sein? Bin ich wirklich in den richtigen Flieger gestiegen?

Tatsächlich hat die Partie von Südafrika, die ich bisher gesehen habe (d.h. Kapstadt und die umliegende Region), optisch und vom Feeling her mehr mit den USA gemeinsam: Städte sind nach demselben quadratischen Format gebaut, in Restaurants gilt dasselbe Trinkgeldprinzip, ebenso wie in beiden Ländern ein ähnliches Verhältnis zur Religion zu bestehen scheint. Und dann ist da natürlich auch die multikulturelle Zusammensetzung der Gesellschaft, die mich auch am ehesten an die USA erinnert: Südafrika wird oft auch als "Regenbogennation" bezeichnet, da hier zwischen Schwarzen und Weißen Menschen jeder möglichen Hautfarbe leben. Außerhalb der Städte findet man dieselbe Weite, die ich eigentlich auch nur aus den Südwest-USA kenne.

Kapstadt selbst ist eine Wahnsinnsstadt. Wobei die Stadt selbst eigentlich gar nicht sooooo toll ist. Also, wäre Kapstadt irgendwo anders hingebaut worden, wäre die Stadt nicht was sie ist. Was hier nämlich quasi alles ausmacht, ist die Lage am Fuß des Tafelbergs. Siehe Fotos.

Aber auch ansonsten kann man in Kapstadt viel machen. Zum Beispiel:

- Museen besichtigen. Sehr empfehlenswert das Sklaverei-Museum.

- Robben Island. Auf der Gefängnis-Insel, auf der Nelson Mandela unter dem Apartheids-Regime von 1962 bis 1984 gefangengehalten wurde, wird man von ehemaligen Häftlingen herumgeführt, die sich entschieden haben, nach ihrer Entlassung weiter auf der Insel zu leben. Beeindruckend finde ich, dass - laut unserem Guide - viele ehemalige Wärter ebenfalls auf Robben Island geblieben sind und mit den Ex-Sträflingen ein freundschaftliches Verhältnis führen.

- Wandern. Tafelberg, Lion's Head, Devil's Peak - der nächste Berg ist nie weit entfernt und die Aussicht immer lohnenswert. Siehe Fotos.

- Shoppen. Klingt zwar komisch, wenn es von mir kommt, aber in Kapstadt habe ich endlich die Gelegenheit, einige Dinge zu kaufen, die mir in meinem Gepäck gefehlt haben. Ab jetzt reise ich mit Zelt, Schlafsack, Isomatte und Gitarre.

- Essen. Wenn man die richtigen Leute kennt, wird man vielleicht auf ein Braai eingeladen. Das ist eigentlich nichts anderes als ein Grillen, nur dass es bei den Südafrikanern tatsächlich Teil der kulturellen Identität ist. Und wenn man dieses Glück nicht, gibt es immer noch genügend gute Restaurants in Kapstadt.

- Surfen gehen (auf Afrikaans: Branderplankry). Ausprobiert in Muizenberg, südlich von Kapstadt. War das erste Mal für mich, meine Souveränität auf dem Surfbrett muss sich wohl noch entfalten. Kaum waren aus dem Wasser raus, ging der Hai-Alarm los.

- Cape of Good Hope. Ein sehr schöner Nationalpark auf einer grünen Halbinsel südlich von Kapstadt, die von vielen fälschlicherweise für den südlichsten Punkt des afrikanischen Festlandes gehalten wird. Ist zwar unglaublich touristisch, aber hey, ist schließlich das Kap der Guten Hoffnung.

Einige etwas befremdende Eigenheiten hat Kapstadt allerdings auch. Dazu gehören zum Beispiel die abgezäunten und oftmals mit Stacheldraht versehenen Häuser und Wohnungen, die in einem normalen Wohnviertel oftmals den Eindruck vermitteln, dass man an einer Reihe von Mini-Gefängnissen vorbeispaziert. Tatsache ist halt, dass Südafrika eine der höchsten Kriminalitätsraten der Welt hat, und dass es unverzeihlich naiv wäre, wenn man sein Haus nicht mit allen möglichen Mitteln vor Einbrechern schützen würde. Der Nachbarin meines Hostels beispielsweise wurde vor einigen Tagen in der Nacht das Auto ausgeschlachtet - geklaut wurde alles, was man mitnehmen konnte, unter anderem das Ersatzrad, das Nummernschild und die Autobatterie. Sie selbst war nicht sicher, ob das jetzt das sechzehnte oder siebzehnte Mal war, dass ihr so etwas passierte.

Eine andere Sache ist etwas, was sich nicht so einfach in Worte fassen lässt: Auch 22 Jahre nach der rassistischen Apartheids-Ära scheint hier immer noch eine krasse Zwei-Klassen-Gesellschaft zu bestehen. Auf der einen Seite gibt es richtig schicke Wohnviertel, vornehmlich südlich des Stadtzentrums, wo man eigentlich nur Weiße antrifft. In anderen Gegenden oder Situationen - beispielweise in den berüchtigten Minibussen, dem billigsten öffentlichen Verkehrsmittel des Landes - habe ich nie einen einizigen Weißen gesehen. Das Befremdende an der Sache für mich ist weniger diese Beobachtung selbst, sondern eher die Tatsache, dass es als Außenstehender schwierig ist, beurteilen zu können, mit all dem, was man schon mal über die Geschichte Südafrikas gehört hat, was hiervon eine Überbleibsel der Vergangenheit ist. Anders gesagt: Das, was man sieht, hinterlässt im Zusammenhang damit, was man uber Apartheid usw. weiß, ab und zu einen unangenehmen Nachgeschmack.

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In Kapstadt treffe ich mich mit Michel, einem alten Freund aus der Heimat, der mittlerweile hier in Südafrika wohnt. Dieser hat erfreulicherweise eine Woche Ferien und nützlicherweise ein Auto - da bietet es sich ja an, die weitere Umgebung von Kapstadt auf Rädern zu erkunden. Mit von der Partie ist noch eine Deutsche namens Eva, und so brechen wir also auf zu dritt.

Road Trip Tag 1: Gegen Mittag brechen wir von Kapstadt aus auf und fahren zum Kogelberg Nature Reserve, das nicht allzuweit von Kapstadt entfernt liegt. Nach einer kleinen Wanderung dort machen wir uns einen leeren Strand heimisch, wo wir grillen (der letzte Braai ist immerhin schon 24 Stunden her) und unter einem atemberaubenden Sternenhimmel schlafen.






Tag 2: Wir packen am Strand unsere Sachen zusammen und fahren Richtung Osten. Das hier ist größtenteils ein reiner Fahrtag, sodass es nicht all zu viel zu erklären gibt. Hier und da halten wir in einigen typischen verschlafenen Kleinstädten der Provinz Western Cape, wie zum Beispiel Stellenberg an, die optisch wie eine Kreuzung aus Holland und USA wirken und nicht im Entferntesten irgend eine Ähnlichkeit damit aufweisen, wie man sich Afrika normalerweise vorstellt. Die Townships und Squatter Camps, an denen wir am Vortag beim Verlassen von Kapstadt vorbeigefahren sind, scheinen Lichtjahre entfernt zu sein. Wir übernachten bei einem Arbeitkollegen von Michel.




Tag 3: Wir starten den Tag mit einer kleinen Wanderung entlang einer nicht mehr funktionalen Zuglinie und besichtigen dort eine Höhle, die seit neun Jahren von Obdachlosen bewohnt wird. Sehenswert ist diese aufgrund des etwas eigenwilligen Dekorationsstils ihrer Bewohner, der einem den Eindruck vermittelt, man befinde sich in einem psychidelischen Traum. Über Geschmack lässt sicht streiten, meinen trifft es nicht einmal annähernd, ist aber ganz... interessant.

Danach geht es weiter zu einem weiteren Strandort namens Swellendam, der vor allem wegen einer hübschen Halbinsel sehenswert ist. Wir quartieren uns anschließend bei Swellendam in einem total abgelegenen Hostel in einem Wald ein.








Tag 4: Den heuten Tag verbringen wir in der Nähe von Swellendam, und zwar in Tsitsikama National Parc, wo wir entlang der wilden Küste zu einem schönen Wasserfall wandern. Anschließend fahren wir wieder Richtung Westen und halten für die Nacht in Oudtshoorn, einer Stadt am Rander der Karoo-Wüste, die in Südafrika vor allem wegen ihrer Straußenfarmen berühmt ist.






Tag 5: Da wir alle der Meinung sind, dass Straußen hässliche, fiese Viecher sind, verzichten wir darauf, eine Straußenfarm zu besichtigen. Dafür besichtigen wir in der Nähe von Oudtshoorn die riesigen Kangoo-Höhlen. Empfehlenswert ist hier die so genannte "Adventure Tour", auf der man weitaus tiefer in die Höhle kommt, als auf der normalen Tour. Platzangst sollte man allerdings nicht haben, und schlank und gelenkig zu sein schadet bei den teilweise wirklich extrem engen Gängen auch nicht.

Anschließend geht die Fahrt weiter. Unser nächstes Ziel ist der Swartberg-Pass, der die zwei Teile der Karoo-Wüste (Große Karoo und Kleine Karoo) voneinander trennt. Wir sind mittlerweile nicht mehr an der Küste, sondern mehr im Landesinnern. Das Wetter ist nicht mehr so wechselhaft, sondern ganz schön heiß, und auch die Landschaft hat sich ziemlich verändert. Insgesamt wirkt das Ganze hier schon sehr viel afrikanischer. Als wir schon ein gutes Stück über die Passstraße gefahren sind, ist der Weg plötzlich durch ein großes Straßenschild blockiert: Straße gesperrt. Ein Straßenarbeiter ein paar Meter vor dem Schild klärt uns auf, dass die Straße heute gesperrt sei - wir könnten sie aber morgen befahren. Das ist jetzt allerdings ein Problem - wenn wir da nicht rauffahren können, müssen wir einen ordentlichen Umweg fahren und außerdem auf eine ziemlich schöne Landschaft verzichten. Außerdem finden, anders als man erwarten würde, hinter dem Straßenschild keine eigentlichen Arbeiten statt. Zum Glück ist das hier aber nicht Deutschland:
"Do you mind if we drive on the road?"
"Yes."
"Can we drive on the road?"
"Yes."
"Okay, thank you."

Weiter geht es den Berg rauf; hier und da halten wir mal an, um Fotos zu machen, und wir müssen auch mal eine Zwangspause einlegen, als der Motor überhitzt. Auf dem Pass angekommen steht dann da ein weiteres CLOSED/GESLUIT-Schild. Ein Kerl, der der nicht all zu interessant scheinenden Aufgabe nachgeht, das Schild zu bewachen, reagiert aber mit afrikanischer Gelassenheit auf unser Erscheinen:
"Is the road closed?"
"Yes."
"Can we drive on it?"
"Yes."
... und schiebt netterweise für uns noch das Schild zur Seite.

Auf der anderen Seite des Passes kommen wir irgendwann wieder auf eine geteerte Straße und setzen unseren Roadtrip gemächlich fort. Abends kommen wir dann unter in einem Hostel in einer Kleinstadt namens Barrydale, wo neben uns auch zwei Dutzend Biker nächtigen. Wobei nächtigen nicht das richtige Wort ist, denn eigentlich jagen die die Sau bis in die tiefe Nacht.











Tag 6: Wir kehren zurück nach Kapstadt, durchqueren auf der Fahrt die Weinregion Südafrikas und testen hier und da den einen oder anderen Wein. Road Trip Ende.



Ich verbringe anschließend noch einige Tage in Kapstadt, mache einige Wanderungen/Besichtigungen, habe Spaß an meiner neuen Gitarre, plane die nächsten Stopps auf meiner Afrikareise und genieße den Ort als eine Art Pause zwischen Indien und dem "richtigen" Afrika. Ich muss zugeben, dass ich mich ein wenig damit schwergetan habe, diesen Eintrag zu schreiben, da ich hier auf zwei Wochen zwar viele schöne Dinge gesehen habe, das Erlebnis als solches aber nicht so intensiv war wie quasi jeder Tag in Indien. Was aber nichts Schlechtes ist - vorerst gefällt mir das Normale hier, und ich bin froh, dort zu sein, wo ich gerade bin. Wie eigentlich immer.


Dienstag, 8. März 2016

Der Süden

Madurai im indischen Staat Tamil Nadu, nicht all zu weit entfernt von Sri Lanka, ist eine der südlichsten Großstädte auf dem indischen Festland. Dem ersten Eindruck nach ist das hier eine Art Hardcore-Indien, ein Ort, an dem gar nichts funktioniert - ein Best of all der Dinge, die einem in diesem Land auf die Nerven gehen können. Die Temperatur beträgt tagsüber knapp 40 Grad und versetzt einen während des ganzen Tages in eine träge Schläfrigkeit. Sich zu verständigen ist für Leute, die wie ich kein Tamil sprechen, sehr schwierig. Vom Verkehr und Dreck rede ich gar nicht erst - Gospertstraße lässt grüßen. Was noch hinzukommt, ist, dass man als Weißer hier einen dermaßen hohen Seltenheitswert hat, dass man andauernd - und ich meine wirklich andauernd - angestarrt, angesprochen oder verfolgt wird. Es ist möglicherweise der fremdartigste Ort, den ich in diesem ohnehin schon fremdartigen Land besucht habe. Hier werde ich die letzten Wochen meiner Indienreise verbringen.

Madurai ist eine Art Antithese zu all den Backpacker-Märchen, die mir in Nordindien über den Süden erzählt worden sind und die sich letzten Endes... halt als Märchen entpuppt haben. Kosprobe? Der Süden ist sehr viel sauberer als der Norden. Stimmt nicht. Der Süden ist viel entspannter als der Norden. Stimmt vielleicht, wenn man im Süden nur an den Stränden unterwegs ist, ansonsten auch nicht wahr. Und ich bleibe dabei: Wer Entspannung sucht, ist in diesem Land einfach an der falschen Adresse. Der Süden ist sehr viel einfacher zu bereisen als der Norden. Im Grunde ist es in Indien nie schwierig, von Ort zu Ort zu gelangen, allerdings habe ich, anders als im Süden, im Norden nie zwei Stunden lang auf einen verspäteten Zug warten müssen. Im Süden sprechen alle sehr gutes Englisch. In Touristenhochburgen (Goa! Hampi!) oder multikulturellen Melting Pots (Mumbai! Bangalore!) mag das ja stimmen, aber im Norden ist das auch nicht anders (Jaipur! Agra! Delhi!). Und in Tamil Nadu, dem südlichsten Staat des Landes, fällt mir die Verständigung tatsächlich am schwersten. Der Süden ist teurer als der Norden. Nö, die Preise sind nicht all zu verschieden, Ausnahme: Goa.

Typisches Gericht im Süden, serviert auf Bananenblättern
Was allerdings wohl stimmt: Der Süden ist ganz anders als der Norden. Zuminstest ziemlich anders. Beispiele:

- Der Norden hat die schöneren Städte, der Süden die schöneren Landschaften.

- Der Süden (insbesondere Goa und Kerala) ist sehr viel stärker christlich geprägt als der Norden.

- Der Süden ist weniger touristisch als der Norden, Ausnahmen bestätigen die Regel.

- Das Essen ist im Norden viel deftiger; dafür ist es im Süden sehr viel pikanter.

- Ein weiterer Unterschied liegt in der Sprache. Während im Norden im Allgemeinen Hindi als offizielle Landessprache gilt, werden im Süden komplett andere Sprachen wie Kannada, Tamil, Telugu oder Malaya gesprochen. Was für mich eigentlich keinen großen Unterschied macht, da ich ohnehin keine dieser Sprachen verstehe; allerdings wird in den südlichen Staaten, der jeweiligen lokalen Sprache entsprechend, immer ein komplett eigenständiges Alphabet erwenden - und das, finde ich, veleiht der jeweiligen Region dann doch immer einen gewissen anderen Look.

- Eine Besonderheit im Staat Kerala, die ich so niemals mit Indien in Verbindung gebracht hätte, ist diese: Seit der Unabhängigkeitserklärung Indiens ist in diesem kleinen Landesteil im Südwesten Kommunismus ein ziemlich beliebtes politisches Konzept. Was zur Folge hat, dass wirklich überall alle paar Meter irgendwo eine rote Fahne mit Hammer und Sichel zu sehen ist - und das obwohl die Kommunistische Partei momentan in Kearla in der Opposition ist.

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Kanyakumari, das Ende Indiens
Ich bin also in Madurai angekommen. Stationen, die ich davor noch eingelegt habe, waren Alleppey (wo ich mit ein paar Leuten eine Kanu-Tour in die Backwaters unternommen habe, das ist ein Netz von Wasserstraßen, an denen viele Einheimische immer noch in Hausbooten leben), Varkala (ein relativ ruhiger Strandort) und Kanyakumari (die Südspitze des indischen Festlandes). In Madurai habe ich vor, für ein paar Wochen bei einer NGO Freiwilligenarbeit zu machen und somit mein Karma aufzubessern. Nachdem ich so und so lange rumgereist bin, ist es bestimmt nicht verkehrt, endlich noch mal was Sinnvolles zu machen.


Slum in Madurai
Die NGO, bei der ich unterkomme, heißt Madurai Seed. Es handelt sich hierbei um eine recht kleine Organisation, die in einem Slum wirksam ist und sich, kurz zusammengefasst, darum kümmert, dass die dort lebenden Kinder zumindest außerhalb der Tagesschule eine gute Schulausbildung genießen können. Die Sache ist nämlich so: Die staatlichen Schulen in den ärmeren Gegenden können sich nicht gerade hoher pädagogischer Standards rühmen. Das hat zur Folge, dass benachteiligte Kinder die Schule oft frühzeitig verlassen und dann oft keine andere Möglichkeit haben, als in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten. Für Jungs bedeutet das: Alkohol, Drogen, Frau und Kinder verprügeln. Für Mädchen beudeutet das: So früh wie möglich heiraten. Und das nennt man dann wohl einen Teufelskreislauf.

Damit dies für die Kinder in diesem Slum nicht eintritt, organisiert Madurai Seed für die Kinder während der Woche eine Art Abendschule und während des Wochenendes einige weniger schulische Aktivitäten. Das ganze lässt sich etwa als eine Mischung aus Schule und Pfadfinder verstehen. Durch Spendeneinnahmen wird den Kindern zudem ein Sparguthaben ermöglicht, durch das sie nach dem Schulabschluss ihre Studien finanzieren können. Und das Tolle an der Sache ist, dass das wirklich funktioniert: Ein Großteil der ehemaligen Schüler dieser Organsation treten nach dem Abschluss akademische Studien an. Und da sie verstehen, dass sie sich auf diese Art ein besseres Leben ermöglichen können, kommen sie tatsächlich jeden Tag nach der Schule hierhin, um noch mehr zu lernen. Ich wiederhole: Jeden Tag gehen die Kinder nach der Schule zur Schule! Und das auch noch freiwillig und gerne!

Ich bleibe knapp drei Wochen in Madurai und richte mir während dieser Zeit etwas ein, was ich während der letzten Monate nur bedingt habe genießen können: einen Alltag. Morgens fahre ich mit einem klapprigen ausgeliehenen Fahrrad in das Slum, zum winzigen "Main Office" der Organisation und verbringe den Vormittag mit Dingen wie Korrekturlesen, Video-Editing für ein Projekt der NGO oder Klavierunterricht geben - was gerade so ansteht. Mittags fahre ich dann zurück zu meinem unweit des Slums gelegenen Hotel, verkrieche mich vor der unglaublich drückenden Hitze, drehe die Klimaanlage voll auf und bereite meine Englisch-Unterrichte vor. Im späten Nachmittag fahre ich dann zurück und gebe meinen Unterricht.

Mir zugeteilt sind zwei Gruppen. Eine mit Kindern von 10 bis 13 Jahren, eine mit Leuten von 16 aufwärts. Nachdem ich zwei Jahre als Lehrer gearbeitet habe, erlebe ich hier doch einige Dinge, die mir komplett neu sind:

- Es gibt keine Bänke oder Tische - wir sitzen alle auf dem Boden.

- Die Schüler sind stark gedrillt. In meiner ersten Unterrichtsstunde begrüße ich die Kinder mit etwas im Stil: "Hi, how are you?"
Antwort (29 Kinder, wie auf Kommando, einheitlich zusammen): "FINE, SIR! HOW ARE YOU, SIR?"

- Wenn ich einen Schüler um eine Antwort bitte, steht dieser auf und setzt sich erst hin, wenn ich ihn dazu auffordere. (Ich erfahre, dass Schüler in der Tagesschule dazu eigentlich noch die Arme verschränken müssen, um ihren Respekt vor dem Lehrer anzuzeigen. Aber hier sind die Umgangsformen lockerer, da müssen die Schüler nur aufstehen.)

- Und am Ende des Unterrichts verabschiedet sich jede Schülerin und jeder Schüler tatsächlich persönlich von mir, und zwar immer mit derselben Formel: "Thank you! The class was very nice! Good night! Sweet dreams!"

Gandhi-Museum, Madurai
Madurai als Stadt wächst mir während dieser Zeit zwar nicht all zu sehr ans Herz; allerdings komme ich nach einiger Zeit doch zu der Erkenntnis, dass es hier mehr gibt als Dreck, Krach, Chaos und Armut. In ihrer jüngeren Geschichte ist die Stadt eng mit dem Namen Mahatma Gandhi verbunden. Der Minakschi-Tempel, das spirituelle Zentrum der Stadt, an dessen Außenfassade eine Vielzahl von hinduistischen Gottheiten verewigt ist, war eine der ersten Gebetsstätten, die Gandhi für Kastenlose öffnen ließ. In Madurai ist auch das Leinentuch enthalten, das Gandhi bei seiner Ermordung trug. (Das Blut kann man immer noch sehen.)

Zudem ist Madurai auch eine sehr traditionelle Stadt - Dinge wie westliche Kleidung oder westliches Essen finde ich hier nirgendwo; Menschen mit passablen Englisch-Kenntnissen sind auch selten. Das Kastensystem wird hier leider noch sehr ernst genommen und Familienbande scheinen hier selbst für indische Verhältnisse sehr stark zu halten. Auch wenn man sich in so einem Umfeld ab und zu etwas verloren vorkommen kann - ich erhalte hier einen Einblick in das Land und das Leben der Menschen hier, der an touristischeren Orten so gut wie unmöglich ist.

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Meine Zeit in Indien ist somit zu Ende. Zeit, abzurechnen. Irgedwie war es sehr schön. Und irgendwie auch nicht. Ich weiß, ich habe mich schon vorher öfters darüber ausgelassen, aber ich muss zum Abschluss doch noch mal die zehn Dinge auflisten, die ich in Indien absolut wunderbar und absolut entsetzlich fand. (Was ich dazu noch anmerken muss: Bei der zweiten Top 10-Liste fiel mir sehr viel mehr ein als bei der ersten - das sagt doch auch einiges aus.)


Ich fange an mit meinen Top 10 der Dinge, die ich in Indien gehasst habe:

10. Die Tatsache, dass ich mich hier dauernd wie ein Außerirdischer fühle.

9. Das andauernde Spucken. In einem Hotel war die Wand des Fahrstuhls dermaßen voll von roten Spuckspuren, dass ich im ersten Moment glaubte, da sei einer erschossen worden. Oder, einmal im Bus saß ich am Fenster, neben mir einer, der sich über mich beugte, um aus dem Fenster zu spucken. Das war schon ziemlich umständlich, und leider spuckte er sich deshalb teilweise auf die Hände - die hat er dann an meiner Hose sauber gerieben. Das fand ich nicht so schön.

8. Krank werden. Leider ist das Risiko, dass so etwas auf Reisen passiert, in diesem Land recht hoch. Mir ist's passiert, lustig war's nicht.

7. Goa.

6. Die Tatsache, dass man hier nie richtig gut schlafen kann. Entweder ist es im Zimmer eiskalt oder sauwarm, oder nebenan startet man um 2 Uhr nachts eine Hochzeit (mehrmals erlebt in Rajasthan), oder du hast einen lästigen Engländer im Dorm, der selbst um 4 Uhr nachts nicht die Klappe halten kann, oder du wachst auf und merkst, wie eine ziemlich große Spinne von deiner Ferse bis zu deinem Nacken raufkrabbelt. Ich habe seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen.

5. "Yes, my friend, come to my shop! Good price!" Ich kann's nicht mehr hören.

4. Die Tatsache, dass man nie richtig sicher ist, wo man bei jemandem dran ist. Wie viele Unterhaltungen habe ich mit Leuten in den Öffentlichen geführt, die wie normaler, freundlicher Small Talk anfingen und letztendlich hinausliefen auf die Aussage: Ich bin arm, du bist reich... Verstehst du, was ich meine?

3. Damit zusammenhängend: Die Armut.

2. Der Müll. Einmal in Varkala am Strand, ich bin dabei, wie ein Bekloppter gegen die meterhohen Wellen zu springen. Ein paar Inder kommen ins Wasser; einer von denen hat eine gelbe Mülltüte dabei, die er lachend in die offene See wirft. Ich glaub' echt, ich seh' nicht richtig.

1. Der Krach.


Und hier sind die Top 10 der Dinge, die ich in Indien geliebt habe:

10. Die Tatsache, dass ich mich nicht zu schämen brauche, wenn ich von allen Verkehrsteilnehmern angehupt werde, während ich die Straße dort überquere, wo kein Zebrastreifen ist, oder mit meinem Fahrrad gerade in die falsche Fahrtrichtung unterwegs bin.

9. Die Tatsache, dass letzten Endes alles doch irgendwie funktioniert.

8. Die Tiere. Damit meine ich nicht unbedingt die Tiere, die ich dann und wann in meinem Zimmer hatte, sondern eher die Tiere, die das Straßenbild in Indien prägen: Kühe, Hunde, Ziegen, Affen, Hühner, Schweine, Katzen, Wellensittiche, Pfauen, Kamele und Elefanten - das sind die Tiere, die ich mitten in der Stadt gesehen habe und die mir spontan einfallen. Da gibt es bestimmt noch mehr. Hat was, finde ich.

7. Das öffentliche Verkehrsnetz. Mit dem Bus oder Zug durch Indien fahren nimmt zwar Zeit in Anspruch, aber letzten Endes kommt man doch überall hin - und das auch noch zu Spottpreisen.

6. Die Spottpreise.

5. Mit dem Tuktuk durch die Stadt fahren. Ich werde hier keine großen Worte verlieren - das muss man einfach erlebt haben!

4. Das Essen - im Süden eher als im Norden, aber lecker ist es eigentlich überall.

3. Rajasthan und das Taj Mahal.

2. Und auch, wenn sie in meinen Beiträgen nicht immer gut davongekommen sind: die Inder. Es gibt zwar die eine oder andere Nervensäge in den touristischen Gegenden, und außerhalb davon gewisse Verhaltensweisen, die von schräg bis verstörend reichen können; aber gleichzeitig habe ich hier auch einige der nettesten Menschen überhaupt getroffen. Vor allem in Madurai.

1. Einfach das Gefühl, in Indien auf Reisen zu sein. Keine Ahnung, irgendwie ist das Reisen hier immer noch ein Abenteuer, wenn man's richtig angeht. Ganz ehrlich, ich kann eigentlich jedem nur empfehlen, mal ein paar Monate durch Indien zu reisen. Es ist zwar nicht immer komfortabel, aber es öffnet einem die Augen.

Der Rucksack ist wieder gepackt, und es ist wieder mal Zeit, das Land zu wechseln. Uuuuuh, ich bin ja schon so gespannt! Wie quasi immer denke ich auch bei diesem Land, dass ich noch mal zurück kommen muss. Ob daraus was wird, ist natürlich nie sicher, mal schauen. Aber bis dahin verabschiede ich mich halt von den schönen und hässlichen und absolut bekloppten Seiten Indiens und sage Namaste! (im Sinne von Tschüss!) Ich kann zwar nicht behaupten, dass ich alles hier mag, aber ich werd's vermissen.

Backwaters in Kerala


Varkala Beach

Der Lieblingssport der Inder - Kricket!

Kanyakumari

Der südlichste Punk des Landes

Minakschi-Tempel, Madurai

Eine meiner Klassen in Madurai