Dienstag, 8. März 2016

Der Süden

Madurai im indischen Staat Tamil Nadu, nicht all zu weit entfernt von Sri Lanka, ist eine der südlichsten Großstädte auf dem indischen Festland. Dem ersten Eindruck nach ist das hier eine Art Hardcore-Indien, ein Ort, an dem gar nichts funktioniert - ein Best of all der Dinge, die einem in diesem Land auf die Nerven gehen können. Die Temperatur beträgt tagsüber knapp 40 Grad und versetzt einen während des ganzen Tages in eine träge Schläfrigkeit. Sich zu verständigen ist für Leute, die wie ich kein Tamil sprechen, sehr schwierig. Vom Verkehr und Dreck rede ich gar nicht erst - Gospertstraße lässt grüßen. Was noch hinzukommt, ist, dass man als Weißer hier einen dermaßen hohen Seltenheitswert hat, dass man andauernd - und ich meine wirklich andauernd - angestarrt, angesprochen oder verfolgt wird. Es ist möglicherweise der fremdartigste Ort, den ich in diesem ohnehin schon fremdartigen Land besucht habe. Hier werde ich die letzten Wochen meiner Indienreise verbringen.

Madurai ist eine Art Antithese zu all den Backpacker-Märchen, die mir in Nordindien über den Süden erzählt worden sind und die sich letzten Endes... halt als Märchen entpuppt haben. Kosprobe? Der Süden ist sehr viel sauberer als der Norden. Stimmt nicht. Der Süden ist viel entspannter als der Norden. Stimmt vielleicht, wenn man im Süden nur an den Stränden unterwegs ist, ansonsten auch nicht wahr. Und ich bleibe dabei: Wer Entspannung sucht, ist in diesem Land einfach an der falschen Adresse. Der Süden ist sehr viel einfacher zu bereisen als der Norden. Im Grunde ist es in Indien nie schwierig, von Ort zu Ort zu gelangen, allerdings habe ich, anders als im Süden, im Norden nie zwei Stunden lang auf einen verspäteten Zug warten müssen. Im Süden sprechen alle sehr gutes Englisch. In Touristenhochburgen (Goa! Hampi!) oder multikulturellen Melting Pots (Mumbai! Bangalore!) mag das ja stimmen, aber im Norden ist das auch nicht anders (Jaipur! Agra! Delhi!). Und in Tamil Nadu, dem südlichsten Staat des Landes, fällt mir die Verständigung tatsächlich am schwersten. Der Süden ist teurer als der Norden. Nö, die Preise sind nicht all zu verschieden, Ausnahme: Goa.

Typisches Gericht im Süden, serviert auf Bananenblättern
Was allerdings wohl stimmt: Der Süden ist ganz anders als der Norden. Zuminstest ziemlich anders. Beispiele:

- Der Norden hat die schöneren Städte, der Süden die schöneren Landschaften.

- Der Süden (insbesondere Goa und Kerala) ist sehr viel stärker christlich geprägt als der Norden.

- Der Süden ist weniger touristisch als der Norden, Ausnahmen bestätigen die Regel.

- Das Essen ist im Norden viel deftiger; dafür ist es im Süden sehr viel pikanter.

- Ein weiterer Unterschied liegt in der Sprache. Während im Norden im Allgemeinen Hindi als offizielle Landessprache gilt, werden im Süden komplett andere Sprachen wie Kannada, Tamil, Telugu oder Malaya gesprochen. Was für mich eigentlich keinen großen Unterschied macht, da ich ohnehin keine dieser Sprachen verstehe; allerdings wird in den südlichen Staaten, der jeweiligen lokalen Sprache entsprechend, immer ein komplett eigenständiges Alphabet erwenden - und das, finde ich, veleiht der jeweiligen Region dann doch immer einen gewissen anderen Look.

- Eine Besonderheit im Staat Kerala, die ich so niemals mit Indien in Verbindung gebracht hätte, ist diese: Seit der Unabhängigkeitserklärung Indiens ist in diesem kleinen Landesteil im Südwesten Kommunismus ein ziemlich beliebtes politisches Konzept. Was zur Folge hat, dass wirklich überall alle paar Meter irgendwo eine rote Fahne mit Hammer und Sichel zu sehen ist - und das obwohl die Kommunistische Partei momentan in Kearla in der Opposition ist.

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Kanyakumari, das Ende Indiens
Ich bin also in Madurai angekommen. Stationen, die ich davor noch eingelegt habe, waren Alleppey (wo ich mit ein paar Leuten eine Kanu-Tour in die Backwaters unternommen habe, das ist ein Netz von Wasserstraßen, an denen viele Einheimische immer noch in Hausbooten leben), Varkala (ein relativ ruhiger Strandort) und Kanyakumari (die Südspitze des indischen Festlandes). In Madurai habe ich vor, für ein paar Wochen bei einer NGO Freiwilligenarbeit zu machen und somit mein Karma aufzubessern. Nachdem ich so und so lange rumgereist bin, ist es bestimmt nicht verkehrt, endlich noch mal was Sinnvolles zu machen.


Slum in Madurai
Die NGO, bei der ich unterkomme, heißt Madurai Seed. Es handelt sich hierbei um eine recht kleine Organisation, die in einem Slum wirksam ist und sich, kurz zusammengefasst, darum kümmert, dass die dort lebenden Kinder zumindest außerhalb der Tagesschule eine gute Schulausbildung genießen können. Die Sache ist nämlich so: Die staatlichen Schulen in den ärmeren Gegenden können sich nicht gerade hoher pädagogischer Standards rühmen. Das hat zur Folge, dass benachteiligte Kinder die Schule oft frühzeitig verlassen und dann oft keine andere Möglichkeit haben, als in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten. Für Jungs bedeutet das: Alkohol, Drogen, Frau und Kinder verprügeln. Für Mädchen beudeutet das: So früh wie möglich heiraten. Und das nennt man dann wohl einen Teufelskreislauf.

Damit dies für die Kinder in diesem Slum nicht eintritt, organisiert Madurai Seed für die Kinder während der Woche eine Art Abendschule und während des Wochenendes einige weniger schulische Aktivitäten. Das ganze lässt sich etwa als eine Mischung aus Schule und Pfadfinder verstehen. Durch Spendeneinnahmen wird den Kindern zudem ein Sparguthaben ermöglicht, durch das sie nach dem Schulabschluss ihre Studien finanzieren können. Und das Tolle an der Sache ist, dass das wirklich funktioniert: Ein Großteil der ehemaligen Schüler dieser Organsation treten nach dem Abschluss akademische Studien an. Und da sie verstehen, dass sie sich auf diese Art ein besseres Leben ermöglichen können, kommen sie tatsächlich jeden Tag nach der Schule hierhin, um noch mehr zu lernen. Ich wiederhole: Jeden Tag gehen die Kinder nach der Schule zur Schule! Und das auch noch freiwillig und gerne!

Ich bleibe knapp drei Wochen in Madurai und richte mir während dieser Zeit etwas ein, was ich während der letzten Monate nur bedingt habe genießen können: einen Alltag. Morgens fahre ich mit einem klapprigen ausgeliehenen Fahrrad in das Slum, zum winzigen "Main Office" der Organisation und verbringe den Vormittag mit Dingen wie Korrekturlesen, Video-Editing für ein Projekt der NGO oder Klavierunterricht geben - was gerade so ansteht. Mittags fahre ich dann zurück zu meinem unweit des Slums gelegenen Hotel, verkrieche mich vor der unglaublich drückenden Hitze, drehe die Klimaanlage voll auf und bereite meine Englisch-Unterrichte vor. Im späten Nachmittag fahre ich dann zurück und gebe meinen Unterricht.

Mir zugeteilt sind zwei Gruppen. Eine mit Kindern von 10 bis 13 Jahren, eine mit Leuten von 16 aufwärts. Nachdem ich zwei Jahre als Lehrer gearbeitet habe, erlebe ich hier doch einige Dinge, die mir komplett neu sind:

- Es gibt keine Bänke oder Tische - wir sitzen alle auf dem Boden.

- Die Schüler sind stark gedrillt. In meiner ersten Unterrichtsstunde begrüße ich die Kinder mit etwas im Stil: "Hi, how are you?"
Antwort (29 Kinder, wie auf Kommando, einheitlich zusammen): "FINE, SIR! HOW ARE YOU, SIR?"

- Wenn ich einen Schüler um eine Antwort bitte, steht dieser auf und setzt sich erst hin, wenn ich ihn dazu auffordere. (Ich erfahre, dass Schüler in der Tagesschule dazu eigentlich noch die Arme verschränken müssen, um ihren Respekt vor dem Lehrer anzuzeigen. Aber hier sind die Umgangsformen lockerer, da müssen die Schüler nur aufstehen.)

- Und am Ende des Unterrichts verabschiedet sich jede Schülerin und jeder Schüler tatsächlich persönlich von mir, und zwar immer mit derselben Formel: "Thank you! The class was very nice! Good night! Sweet dreams!"

Gandhi-Museum, Madurai
Madurai als Stadt wächst mir während dieser Zeit zwar nicht all zu sehr ans Herz; allerdings komme ich nach einiger Zeit doch zu der Erkenntnis, dass es hier mehr gibt als Dreck, Krach, Chaos und Armut. In ihrer jüngeren Geschichte ist die Stadt eng mit dem Namen Mahatma Gandhi verbunden. Der Minakschi-Tempel, das spirituelle Zentrum der Stadt, an dessen Außenfassade eine Vielzahl von hinduistischen Gottheiten verewigt ist, war eine der ersten Gebetsstätten, die Gandhi für Kastenlose öffnen ließ. In Madurai ist auch das Leinentuch enthalten, das Gandhi bei seiner Ermordung trug. (Das Blut kann man immer noch sehen.)

Zudem ist Madurai auch eine sehr traditionelle Stadt - Dinge wie westliche Kleidung oder westliches Essen finde ich hier nirgendwo; Menschen mit passablen Englisch-Kenntnissen sind auch selten. Das Kastensystem wird hier leider noch sehr ernst genommen und Familienbande scheinen hier selbst für indische Verhältnisse sehr stark zu halten. Auch wenn man sich in so einem Umfeld ab und zu etwas verloren vorkommen kann - ich erhalte hier einen Einblick in das Land und das Leben der Menschen hier, der an touristischeren Orten so gut wie unmöglich ist.

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Meine Zeit in Indien ist somit zu Ende. Zeit, abzurechnen. Irgedwie war es sehr schön. Und irgendwie auch nicht. Ich weiß, ich habe mich schon vorher öfters darüber ausgelassen, aber ich muss zum Abschluss doch noch mal die zehn Dinge auflisten, die ich in Indien absolut wunderbar und absolut entsetzlich fand. (Was ich dazu noch anmerken muss: Bei der zweiten Top 10-Liste fiel mir sehr viel mehr ein als bei der ersten - das sagt doch auch einiges aus.)


Ich fange an mit meinen Top 10 der Dinge, die ich in Indien gehasst habe:

10. Die Tatsache, dass ich mich hier dauernd wie ein Außerirdischer fühle.

9. Das andauernde Spucken. In einem Hotel war die Wand des Fahrstuhls dermaßen voll von roten Spuckspuren, dass ich im ersten Moment glaubte, da sei einer erschossen worden. Oder, einmal im Bus saß ich am Fenster, neben mir einer, der sich über mich beugte, um aus dem Fenster zu spucken. Das war schon ziemlich umständlich, und leider spuckte er sich deshalb teilweise auf die Hände - die hat er dann an meiner Hose sauber gerieben. Das fand ich nicht so schön.

8. Krank werden. Leider ist das Risiko, dass so etwas auf Reisen passiert, in diesem Land recht hoch. Mir ist's passiert, lustig war's nicht.

7. Goa.

6. Die Tatsache, dass man hier nie richtig gut schlafen kann. Entweder ist es im Zimmer eiskalt oder sauwarm, oder nebenan startet man um 2 Uhr nachts eine Hochzeit (mehrmals erlebt in Rajasthan), oder du hast einen lästigen Engländer im Dorm, der selbst um 4 Uhr nachts nicht die Klappe halten kann, oder du wachst auf und merkst, wie eine ziemlich große Spinne von deiner Ferse bis zu deinem Nacken raufkrabbelt. Ich habe seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen.

5. "Yes, my friend, come to my shop! Good price!" Ich kann's nicht mehr hören.

4. Die Tatsache, dass man nie richtig sicher ist, wo man bei jemandem dran ist. Wie viele Unterhaltungen habe ich mit Leuten in den Öffentlichen geführt, die wie normaler, freundlicher Small Talk anfingen und letztendlich hinausliefen auf die Aussage: Ich bin arm, du bist reich... Verstehst du, was ich meine?

3. Damit zusammenhängend: Die Armut.

2. Der Müll. Einmal in Varkala am Strand, ich bin dabei, wie ein Bekloppter gegen die meterhohen Wellen zu springen. Ein paar Inder kommen ins Wasser; einer von denen hat eine gelbe Mülltüte dabei, die er lachend in die offene See wirft. Ich glaub' echt, ich seh' nicht richtig.

1. Der Krach.


Und hier sind die Top 10 der Dinge, die ich in Indien geliebt habe:

10. Die Tatsache, dass ich mich nicht zu schämen brauche, wenn ich von allen Verkehrsteilnehmern angehupt werde, während ich die Straße dort überquere, wo kein Zebrastreifen ist, oder mit meinem Fahrrad gerade in die falsche Fahrtrichtung unterwegs bin.

9. Die Tatsache, dass letzten Endes alles doch irgendwie funktioniert.

8. Die Tiere. Damit meine ich nicht unbedingt die Tiere, die ich dann und wann in meinem Zimmer hatte, sondern eher die Tiere, die das Straßenbild in Indien prägen: Kühe, Hunde, Ziegen, Affen, Hühner, Schweine, Katzen, Wellensittiche, Pfauen, Kamele und Elefanten - das sind die Tiere, die ich mitten in der Stadt gesehen habe und die mir spontan einfallen. Da gibt es bestimmt noch mehr. Hat was, finde ich.

7. Das öffentliche Verkehrsnetz. Mit dem Bus oder Zug durch Indien fahren nimmt zwar Zeit in Anspruch, aber letzten Endes kommt man doch überall hin - und das auch noch zu Spottpreisen.

6. Die Spottpreise.

5. Mit dem Tuktuk durch die Stadt fahren. Ich werde hier keine großen Worte verlieren - das muss man einfach erlebt haben!

4. Das Essen - im Süden eher als im Norden, aber lecker ist es eigentlich überall.

3. Rajasthan und das Taj Mahal.

2. Und auch, wenn sie in meinen Beiträgen nicht immer gut davongekommen sind: die Inder. Es gibt zwar die eine oder andere Nervensäge in den touristischen Gegenden, und außerhalb davon gewisse Verhaltensweisen, die von schräg bis verstörend reichen können; aber gleichzeitig habe ich hier auch einige der nettesten Menschen überhaupt getroffen. Vor allem in Madurai.

1. Einfach das Gefühl, in Indien auf Reisen zu sein. Keine Ahnung, irgendwie ist das Reisen hier immer noch ein Abenteuer, wenn man's richtig angeht. Ganz ehrlich, ich kann eigentlich jedem nur empfehlen, mal ein paar Monate durch Indien zu reisen. Es ist zwar nicht immer komfortabel, aber es öffnet einem die Augen.

Der Rucksack ist wieder gepackt, und es ist wieder mal Zeit, das Land zu wechseln. Uuuuuh, ich bin ja schon so gespannt! Wie quasi immer denke ich auch bei diesem Land, dass ich noch mal zurück kommen muss. Ob daraus was wird, ist natürlich nie sicher, mal schauen. Aber bis dahin verabschiede ich mich halt von den schönen und hässlichen und absolut bekloppten Seiten Indiens und sage Namaste! (im Sinne von Tschüss!) Ich kann zwar nicht behaupten, dass ich alles hier mag, aber ich werd's vermissen.

Backwaters in Kerala


Varkala Beach

Der Lieblingssport der Inder - Kricket!

Kanyakumari

Der südlichste Punk des Landes

Minakschi-Tempel, Madurai

Eine meiner Klassen in Madurai

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