Donnerstag, 17. Dezember 2015

Rajasthan



Ein Schrei, gefolgt von mehreren Fußtritten, reißt mich aus meinem Schlummer. Ich öffne die Augen. Über mir die Gesichter von etwa 20 indischen Männern, die mich alle anstarren. Mir gegenüber sitzt eine junge Mutter, die versucht, ihren zweijährigen Sohn dazu zu bringen, mal ruhig zu sein und sich ihr auf den Schoß zu setzen. Diesem scheint diese Idee aber gar nicht zu gefallen; er schlägt viel Krach und tritt gegen alle möglichen Dinge - Dinge wie zum Beispiel meine Beine. Warum starren die mich alle an, frage ich mich, immer noch im Halbschlaf. Warum machen die Inder das dauernd?

Ich sitze im Zug von Agra nach Jaipur, der Hauptstadt Rajasthans. Hierbei handelt es sich um den flächenmäßig größten, und einigen Meinungen zufolge den schönsten, Staat Indiens. Rajasthan wird oft als Wüstenstaat bezeichnet; die Kühe sind zwar auch hier die geheimen Herren des Landes, aber Kamele stehen direkt an zweiter Stelle. Ich reise wieder einmal nicht alleine, sondern in Begleitung einer etwas hippieesken Italienerin, die aus Sicherheitsgründen den frühmorgendlichen Zug von Agra nach Jaipur nicht alleine nehmen wollte, und von der ich vor allem eines lerne: Dass ich, ganz anders als ich von mir gedacht habe, eine absolute Null im Feilschen bin und mit den allgegenwärtigen Touts immer noch viel zu nett bin. Was für mich bedeutet, dass ich beim Preiseverhandeln mit den Rikschafahrern mich einfach zurücklehnen und machen lassen kann und zudem während der nächsten Tag extrem preisgünstig durchs Land kommen werde.

Mein schönstes Foto aus Jaipur. Naja.
Von Jaipur bekommen wir nicht all zu viel zu sehen. Es ist halt eine Großstadt, in der es bestimmt viel Sehenswertes, aber eben auch viel Krach und Chaos, gibt. Was mir allerdings auffällt, ist, dass Jaipur im Vergleich zu anderen Städten (Varanasi, Allahabad oder auch Kathmandu) etwas entwickelter zu sein scheint. Es gibt sogar Bürgersteige, und die Sache mit dem Müll ist hier auch nicht so stark ausgeprägt.

Da Jaipur uns nicht so sehr zusagt, reisen wir tagsdrauf weiter nach Pushkar. Als wir aus dem Bus steigen, werden wir direkt mal von mehreren Indern umzingelt, die beteuern, sie seien keine Schlepper, allerdings könnten sie uns ein sehr gutes Gasthaus anbieten, ich solle mir doch mal die Fotos auf seinem Handy anschauen, der Preis sei auch sehr gut, in welchem Gasthaus wir vorhätten zu übernachten, nein, das sei ganz schlecht, ganz schlecht, seins sei viel besser, warum ich einfach weggehen wolle, das sei doch so unhöflich, nein, wir sollten auf keinen Fall in diese Richtung gehen, ganz gefährlich Ecke dort... Wir gehen in die Richtung, in der wir unser Gasthaus vermuten, und einer der Schlepper kommt uns doch tatsächlich mit dem Motorrad hinterher; warum wir denn nicht auf ihn hören wollten, wir hätten doch keine Ahnung, so ganz alleine in Indien, sein Gasthaus sei wirklich ganz gut, wir sollten ihm doch wirklich eine Chance lassen und bla bla bla...

Ganz abgesehen von diesem Empfang ist Pushkar eigentlich ein ganz angenehmes Städtchen. Pushkar ist ein weiterer heiliger Ort, den gläubige Hindus einmal in ihrem Leben besuchen sollten; ich frage mich wie viele solche Orte es in Indien eigentlich noch gibt. Gleichzeitig ist es auch ein recht touristischer Ort, dessen Hauptattration zum einen in einem Markt entlang des heiligen Sees der Stadt besteht, auf dem man Tee, Gewürze, Räucherstäbchen, Hippie-Klamotten, indische Handwerkskunst, Schmuck, Kunstwerke unterschiedlicher Qualität, Musikinstrumente und was weiß ich sonst noch alles kaufen kann. Zum anderen kann man hier auch einfach sehr gut abschalten.

Wir kommen - ohne Beihilfe irgendwelcher Touts - in einem Gasthaus unter, das von einer sympathischen indischen Familie geführt wird (sympathisch bis auf die Tatsache, dass die versuchen, mich mit einer ihrer Cousinen zu verkuppeln, nein danke, aber ich fühle mich geschmeichelt...), und statt der 2 Tage, die ich vorhatte, hier zu verbringen, bleibe ich ganze fünf. Einige irgendwie typisch indische Reisemomente, die ich hier habe: Die allgegenwärtigen, sehr lauten und sehr bunten Hochzeitsprozessionen, die es ab und zu erschweren, in der Stadt von A nach B zu kommen (versucht man, sich an den Festzügen vorbeizuquetschen, kann es sein, dass man dazu gedrängt wird, mitzutanzen).
Der Kerl, der mir anbietet, mich für 20 Rupien auf seinem Holzkarren (einem bloßen Brett mit vier Rädern) überall hinzuschieben, wo ich mag. Live mitzuerleben, wie mitten auf der Straße ein Kalb zur Welt kommt. Von einer Gruppe Kinder auf der Straße einfach so darum gebeten werden, mit meiner Kamera ein Gruppenfoto von ihnen zu machen. Am hellichten Tag von einer heiligen Kuh angegriffen werden (ich gehe nichts Böses denkend durch die Straße, als die Kuh mir von der Seite ein Horn in die Hüfte rammt; ich laufe weg, die Kuh mir hinterher, keine Ahnung, was die von mir wollte). Augenzeuge sein, als zwei Affen gegeneinander kämpfen und sich gegenseitig verfolgen, und dabei mehrere Läden und Verkaufsstände verwüsten. Solche Augenblicke sind mir irgendwie mehr wert, als x-tausend Sehenswürdigkeiten in kürzester Zeit anzuschauen.

Mit Pushkar scheine ich einen neuen Lieblingsort in Indien entdeckt zu haben; aber da in zwei Wochen mein Flieger nach Normalistan geht und ich doch noch einiges vom Land sehen will, muss es irgendwann weiter gehen. Ich nehme den Zug von Pushkar nach Jodhpur. Wieder auf mich alleine gestellt, kommt es bei meiner Ankunft dort zum üblichen Prozedere: Rikscha-Fahrer kommt am Ausgang des Bahnhofs auf mich zu, ich frage, ob er mich da und da hinfahren kann; er: kein Problem; ich frage nach dem Preis; er: 100 Rupien; ich lache mich kaputt; er: okay, 60 Rupien; ich: nichts da, 40 Rupien; er: 50 Rupien; ich: nö, 40; er: dann geh' doch zu Fuß; ich gehe los; er mir mit der Rikscha hinterher: okay, ich fahr dich für 40 Rupien. Tadaa!

Jodhpur wird auch als "blaue Stadt" bezeichnet, aufgrund der Farbe der Häuserfassaden in der Altstadt. Die blaue Farbe soll die Häuser kühlen und vor Moskitos schützen - Ähnliches lässt sich auch in einigen Städten in Marokko beobachten. Ich verbringe einen Tag in Jodhpur, besichtige die ziemlich beeindruckende Festung über der Stadt, in der sich die Maharjas, die damaligen Herrscher Rajasthans, im 19. Jahrhundert verschantzt hatten; und ich bekomme von einer sehr netten Inderin beigebracht, wie man einen typisch indischen Massala-Tee zubereitet.

Tagsdrauf geht es weiter nach Udaipur. Im Bus bekomme ich einen Luxus-Platz in der Fahrerkabine neben dem andauernd fröhlich vor sich hin rülpsenden Fahrer - was bedeutet: Wieder mal sieben Stunden Busfahrt direkt neben der Hupe, was für ein Spaß. Abgesehen von diesem fraglichen Vergnügen ist die Fahrt aber eigentlich richtig gut: Es geht durch eine sehr schöne grüne, gebirgige Landschaft, die ganz anders aussieht, als man ich mir den "Wüstenstaat" vorgestellt habe. Hier und da sehe ich auch, wie am Straßenrand eine tote Kuh von Tieren verspeist wird, die ich auf die Schnelle nicht identifizieren kann. Auch geht die Fahrt sehr viel schneller voran als in Uttar/Madhya Pradesh, da es hier in Rajasthan Autobahnen gibt, die sogar richtig gut unterhalten sind, ich würde sogar sagen: europäisches Niveau. Einziges Risiko: Geisterfahrer scheinen hier an der Tagesordnung zu sein.

Udaipur ist auch wieder eine sehr schöne Stadt, die mitunter als indisches Venedig vermarktet wird und in der Octopussy, einer der schlechtesten James-Bond-Filme, gedreht wurde; dieser wird hier auch in zahlreichen Restaurants gezeigt - mir tun die armen Kellner leid. Mein erster Eindruck von Udaipur, direkt nach meiner Ankunft: Hui, da läuft ja ein Elefant durch den Verkehr! Mein zweiter Eindruck, nachdem ich in meinem Gasthaus eingecheckt habe: Olalah, die Aussicht auf den See und den Palast am Ufer, spärlich beleuchtet durch das ausgehende Licht der hinter dem Horizont verschwindenen Sonne, ist ja richtig romantisch!

Abgesehen von dem wirklich sehr schönen See habe ich aber einige Schwierigkeiten mit Udaipur. Die Einheimischen in der Touristenzone sind sehr freundlich, sie alle sind meine Freunde (zumindest nennen sie mich alle "my friend"), sie alle wissen, dass Belgien ein "very good country" ist, und sie alle haben einen Laden, in dem sie mir, und natürlich nur mir, bereit sind, einen sehr guten Preis machen. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass sich diese Masche bei mir nach einem Monat in Indien irgendwie abgenutzt hat, oder daran, dass die Ladenbesitzer hier tatsächlich aufdringlicher sind als in Agra und Varanasi, aber Udaipur ist die erste Stadt in Indien, wo ich auf dieses Verhalten ziemlich gereizt reagiere. Die Leute sind zwar tatsächlich sehr nett, und es gibt in den Läden oft auch coole Sachen zu sehen, und dass die Händler einem etwas verkaufen wollen, heißt auch nicht zwangsläufig, dass man sich nicht mit ihnen ein paar Minuten nett unterhalten kann; aber es ist gleichzeitig auch ziemlich anstrengend, andauernd dieselben Fragen beantworten zu müssen und in jeden Shop eingeladen zu werden.

Bundi
Weiter geht es nach Bundi, meinem letzten Halt in Rajasthan. Wieder mal eine Busfahrt, bei der der Fahrer in jeder angefahrenen Stadt zuerst mal jede einzelne Straße zu passieren scheint, sodass die Reise wieder einmal zehn statt der angekündigten sechs Stunden dauert. Mein Sitznachbar - ein freundlicher, wenn auch etwas lästiger Musiker/Frisör/Tattoo-Artist - zeigt mir auf seinem Handy ein grauenhaftes Musikvideo nach dem anderem. Obwohl Bundi auch als eines der Highlights Rajasthans gilt, erscheint mir die Stadt sehr viel weniger touristisch als Pushkar, Jodhpur oder Udaipur, was mir sehr gefällt - vor allem Udaipur wirkte auf mich ein wenig künstlich. Einige würden vielleicht sagen, die Stadt wirke heruntergekommen - ich finde sie authentisch. Das bedeutet vor allem auch, dass selbst nahe der Sehenswürdigkeiten Bundis die Leute mir weitaus weniger mit ihrem ewigen "Hello, my friend, want to see my shop? Good price!" auf die Nerven gehen. In Bundi lasse ich meine Reise durch den Norden Indiens ausklingen: Ich belege einen Kochunterricht, bei dem mehrere indische Rezepte erlerne und ich leihe mir einen Roller aus, mit dem ich ein wenig die Dörfer in der Umgebung der Stadt erkunde.

Halbzeit auf der Weltreise. Wobei das Ende ja eigentlich offen ist. Meine weiteren Pläne sehen folgendermaßen aus: Am 19. fahre ich mit dem Nachtzug von Bundi nach Delhi, von wo aus ich am 21. den Flieger nach Brüssel nehme. Weihnachten und Neujahr daheim, bei hoffentlich nicht zu kalten Temperaturen. Und am 7. Januar geht das Abenteuer dann weiter. Fortsetzung folgt.

Pushkar


Pushkar am Morgen...

... und am Abend. Ich mag dich auch, Sonne.

Jodhpur

Jodhpur

Jodhpur

Aussicht auf Jodhpur mit photobombing Hund

Rote Sonne, blaue Stadt

Ooooooooh, wie süüüüüüüüß!

Bundi und ein bisschen indischer Alltagswahnsinn

Bundi

Bundi

Donnerstag, 3. Dezember 2015

Jenseits des Ganges



Aber es gibt auch Schönes in Indien. Eine Sache beispielsweise, die ich mit jedem Tag, den ich in der größten Demokratie der Welt verbringe, immer mehr wertschätze, ist diese: Indien ist ein unglaublich farbenfrohes Land. Es sind Farben überall. Die Häuserfassaden, die traditionelle Kleidung, die Verkaufsstände entlang der Straßen, auf denen es nicht minder bunt zugeht: Von allen Seiten Farben, in einer Menge, die beizeiten kaum zu verarbeiten ist.

Eine andere Sache ist die indische Küche. Chicken Masala, Palak Paneer, Dal, Biryani, Tandoori Roti, Gulab Jamun, dazu Lassi und jede Menge Masala Chai. Hmmmmm, leckerleckerlecker. Oder auch gewisse alltägliche Dinge. Dass man quasi ständig um den Preis verhandeln muss, finde ich nicht wirklich schlimm, sondern ab und zu sogar ganz lustig. (Ich bin in der Hinsicht während der letzten Monate aber auch durch eine harte Schule gegangen und würde in aller Bescheidenheit behaupten, dass ich im Verhandeln mittlerweile ganz gut bin - danke, Iran!) Auch die öffentlichen Transportmittel sind eigentlich richtig gut. Man muss zwar schon enorm blauäugig sein, wenn man erwartet, dass hier ein Zug mal zeitig abfährt, geschweige denn ankommt. Aber abgesehen davon ist es wirklich einfach, und zudem auch noch richtig günstig, von Ort zu Ort zu gelangen.

Oder der Verkehr, ja genau, der indische Verkehr, hat auch was. Natürlich ist er laut und nervenaufreibend und eine exemplarische Fallstudie in "survival of the fittest" - aber er funktioniert! Was ich damit meine ist: Die Situationen, die man hier im Straßenverkehr teilweise mitbekommt, würden sich in Belgien/Deutschland/usw. niemals ohne ein umständliches Polizeiaufgebot auflösen - in Indien läuft das aber einfach. Der Trick liegt darin, dass hier nicht gehupt wird, um Dampf abzulassen (wie das bei uns oft der Fall ist), sondern um zu kommunizieren. Es ist zwar für Fußgänger nicht immer angenehm, durch den Verkehr zu gehen, da hier dauernd kommuniziert wird, aber eine gewisse Effizienz kann ich dem Ganzen nicht absprechen. Ich könnte mir beinahe vorstellen, dass es hier auch blinde Autofahrer gibt, die sich nur anhand der Hupsignale orientieren. Und auch die Inder sind, wenn sie einem gerade nichts verkaufen wollen, schwer in Ordnung.

Woher dieser Sinneswandel? Nun, zum einen denke ich, dass ich mich an einige Dinge einfach gewöhnt habe. Zum anderen habe ich die letzten Tage auch in eher ruhigen Ecken des Landes verbracht (d.h. natürlich ruhig nach indischen Standards). Nach vier Tagen in Varanasi, einem der heiligsten religiösen Orte der Welt, der mich irgendwie ziemlich kaltgelassen hat, und drei krankheitsbedingt eingelegten Tagen in Allahabad, einer Stadt, die man sich getrost sparen kann, egal was im Reiseführer steht, geht es weiter nach Chitrakoot. Hierbei handelt es sich um einen weiteren Ort von großer Bedeutung in der hinduistischen Mythologie und einen wichtigen Pilgerort für gläubige Hindus. Was mich nicht zuletzt an dieser Stadt reizt: Hier leben nur knapp 50.000 Menschen! Eine Kleinstadt in Indien! Nachdem mir die zwei Millionenstädte nicht gefallen haben, frage ich mich: Ist das vielleicht möglich - ein Ort in Indien, wo es so etwas wie Ruhe gibt? Die Antwort: ja und nein. Chitrakoot ist zwar ruhiger als Varanasi (Kunststück!), aufgrund seiner religiösen Bedeutung zieht es aber dieselben Menschenmassen an. Die Stadt, in der ich keinen anderen westlichen Touristen zu Gesicht bekomme, ist am Mandakini-Fluß gelegen, dessen Ufer durch die vielen Tempel geprägt sind, die dem Ort die Bezeichnung "Mini-Varanasi" eingebracht haben. Tatsächlich ist Chitrakoot auch der erste Ort in Indien, der mir gefällt.

Weiter nach Khajuraho. Wieder eine Busfahrt von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang mit zwei Mal umsteigen. Unterwegs habe ich eine Stunde lang eine recht interessante Unterhaltung mit einem indischen Bezirksrichter auf dem Weg zur Arbeit. Als er erfährt, dass ich Belgier bin, kommt er mit einigen doch recht spezifischen Fragen. Die, die ich behalten habe:
1. Aus welchen Ländern importiert Belgien hauptsächlich seine Elektronik-Artikel?
2. Wie viel Prozent der belgischen Agrarwirtschaft sind privatisiert?
3. Wie positioniert sich die belgische Regierung bzgl. des Bürgerkrieges in der Ukraine?
4. Wie stehst du zur Spiritualität?
Mein lieber Schwan, damit habe ich wohl nicht gerechnet! Wusste eigentlich nicht, dass überhaupt jemand sich solche Fragen stellt. Ist allerdings auch recht nett, mit einem Einheimischen eine Unterhaltung zu führen, die nicht hauptsächlich daraus besteht, dass ich mich dafür rechtfertigen muss, nicht verheiratet zu sein.

Während der Fahrt nach Khajuraho überquere ich zum ersten Mal in Indien eine Staatsgrenze und wechsle von Uttar Pradesh nach Madhya Pradesh. Langsam machen sich einige Änderungen bemerkbar. Das Terrain wird ein wenig hügeliger und trockener, die bewohnten Gebiete geben sich nicht mehr einander die Hand, die Dörfer wirken irgendwie bunter, und selbst die Luft sieht ein wenig klarer aus. Dafür wird aber die Straße schlechter. Irgendwann sehe ich ein Straßenschild, demzufolge Khajuraho noch 24 Kilometer von uns entfernt ist. 30 Minuten vergehen, 45 Minuten, 1 Stunde, anderthalb... Als ich schon denke, wir kommen nie an oder sind schon längst dran vorbei, hält der Bus an, alle steigen aus. Während ich noch dabei bin, meinen Rucksack aufzusetzen, kommt ein junger Mann zu rauf zu mir, einige andere stellen sich vor dem Bus und rufen mir Dinge zu wie:
"Auto-Riksha, Sir?"
"Hotel, guesthouse, Sir?"
"Need good restaurant, Sir?"
"Taxi, Sir?"
"Want a guide, Sir?"
Schaut so aus, als wäre ich angekommen! Nichts wie weg hier!

Khajuraho ist ein kleiner Ort in ländlicher Umgebung, der vor allem für seine vielen gut erhaltenen, zum UNESCO-Kulturwelterbe gehörenden Tempel bekannt sind. Die Außenmauern dieser Tempel sind bildhauerisch sehr fein bearbeitet und enthalten eine Unmenge an Statuen, die.., ich sage mal, thematisch ungefähr genau so pikant sind wie das indische Essen. Nachdem ich in meinem Hostel eingecheckt habe, freunde ich mich in einem Restaurant mit einem jungen Inder an, mit dem ich mich für eine Motorrad-Tour am folgenden Tag verabrede. Wir verbringen beinahe den ganzen Tag damit, per Bike die verschiedenen, in der Gegend verteilten Tempel zu besuchen. Später fahren wir noch aufs Land und machen mal Rast an einem Fluss, an dem es Krokodile geben soll, die wir allerding leider/zum Glück (?) nicht zu Gesicht bekommen.

Khajuraho gefällt mir sehr gut. Auf einen Tag hat man zwar alles gesehen, aber aufgrund der ruhigen, entspannten Atmosphäre der Stadt, ebenso wie der Tatsache, dass ich hier mal Inder kennengelernt habe, die nicht irgendwie an meine Kohle ranwollen, bleibe ich drei Tage hier. Am letzten Abend vor meiner Abreise bin ich dann bei jemandem zuhause zum Abendessen eingeladen; alles was wir machen müssen, ist im Vorfeld etwas Hühnchen zu besorgen. Naiver europäischer Städter, der ich bin, gehe ich natürlich anfangs davon aus, dass wir bei einem Metzger mehrere hundert Gram fertig zubereitetes Fleisch kaufen gehen. Aber das ist Indien - wir fahren zu einem Laden, der komplett mit voll belegten Hühnerkäfigen ausgestattet ist, der Besitzer holt zwei Hühner aus dem Käfig, wiegt sie ab, nennt uns einen Preis, die Hühner scheinen zu wissen, was jetzt kommt, und machen einen letzten verzweifelten Versuch wegzuflattern, das Messer liegt auch schon bereit, und zack - wird den beiden der kurze Prozess gemacht. (Als jemand, der ausgesprochen wenig Fleisch isst, muss ich sagen: Dabei sein, wenn das eigene Abendessen geschlachtet wird - finde ich eigentlich nicht schlecht. Da weiß man zumindest, was man isst.)

Weiter nach Orcha. Nachdem mich eine meiner frisch geschlossenen indischen Bekanntschaften mit dem Motorrad zum Bahnhof gebracht hat (mein Zug geht um 8, seine Arbeit startet um 6; aber was sind schon zwei Stunden Verspätung?), nehme ich zum ersten Mal in Indien, und zum zweiten Mal nur auf meiner Weltreise, den Zug. Orcha ist ein weiteres nicht an Überbevölkerung leidendes Städtchen von 10.000 Einwohnern (laut Guidebook ist es sogar nur ein Dorf), in dem es einige schöne Tempel und einen riesigen Palast zu bestaunen gibt. Dass ich nach Varanasi beschlossen habe, auch in etwas kleineren Orten Halt zu machen, erscheint mir immer mehr als eine gute Idee. Es ist hier einfach sehr viel angenehmer. Ganz ohne Gehupe und "Riksha, Sir?" geht es zwar nicht, aber mein Pauschalurteil vom letzten Mal muss ich doch ein wenig abändern: Es ist nicht überall so schlimm wie in der Gospertstraße.

Rote Festung, Agra
Weiter nach Agra. Wieder Uttar Pradesh, wieder eine Großstadt, und sehr vielen Backpackern zufolge die Hölle auf Erden. Ich finde es eigentlich halb so wild. Es stimmt zwar, dass Agra keine Unmengen an Charme zu besitzen scheint, und dass man alle paar Sekunden den Satz "No, thank you" benutzen muss; aber zumindest die Touristen-Area, in der sich mein Hostel befindet, ist eigentlich sehr ruhig, und es gibt sogar einige Parks, hey, das ist doch auch mal was. Aber das Highlight der Stadt ist natürlich das Juwel des Landes, eines der bekanntesten Bauwerke der Welt, eines der sieben modernen Weltwunder, die "Verkörperung alles Reinen" (nach Rudyard Kipling): das Taj Mahal.

Bis zuletzt bin ich davon ausgegangen, dass mich das Taj Mahal enttäuschen würde. Ein Touristenmagnet, der sich als überteuert und überbewertet erweisen würde, wie der Eiffelturm zum Beispiel (nur meine Meinung natürlich). Bis zuletzt habe ich nichts Besonderes erwartet. Aber es ist wirklich schön. Als ich das weiße Mausoleum zum ersten Mal erblicke, brauche ich zuerst mal etwas Zeit, um zu begreifen, dass das da echt ist. Das richtige Taj Mahal. Ein paar Franzosen hinter mir sehen das aber anders: "Bof, c'est nul!" - "Je suis déçue!" Leute.. ehrlich..?

Nochmal ein Beweisfoto, dass ich es bin
Während des Sonnenaufgangs ist noch nicht so viel los im Park um den Taj Mahal, wo ganz anders als außerhalb der Eintrittspforten strengste Sauberkeitsregeln gelten. Ich setze mich auf eine Bank und schaue mir dieses Meisterwerk mehrere Minuten einfach nur mal an. Einen Wermutstropfen gibt es leider doch (und da haben die Franzosen wahrscheinlich schon recht): das Wetter - kein blauer Himmel, kein magischer Sonenaufgang. Tatsächlich deutet nur ein kleiner orangeroter Punkt hinter dem kilometerdicken Smogfilter an, dass auch über Indien die Sone scheint. Trotzdem: Wow!

Sooooo, das waren meine zweite und meine dritte Woche in Indien, und meine erste Woche wurde hier doch um Welten getoppt. Es chaotisch hier, es ist laut, es ist verrückt; aber es macht so viel Spaß, in diesem Land zu sein, das ist kaum zu beschreiben. Und darum mache ich heute an dieser Stelle Schluss. Liebe Grüsse von bei den Bekloppten!

Chitrakoot

Chitrakoot

Chitrakoot

Tempel in Khajuraho

Khajuraho

Da gibt's Krokodile!


Orcha

Orcha

Orcha

Orcha

Aussicht von der Roten Festung

Das Taj Mahal und viel indische Luft


Samstag, 21. November 2015

Bei den Bekloppten


Oje, Indien.

Habe ich vor einigen Monaten tatsächlich den Verkehr in Istanbul als chaotisch beschrieben? Habe ich wirklich die Taxifahrer im Iran als lästig und aufdringlich bezeichnet? Habe ich wirklich behauptet, Kathmandu sei "laut, stressig und verdreckt"? Ach, ist das süß... So jung, so naiv. Ich hatte ja wirklich gar keine Ahnung!

Indien, das ist für viele Langzeit-Rucksackreisende, wie man sie in Hostels oder Gasthäusern ständig trifft, das Non Plus Ultra. Ich habe auf meiner Reise unzählige Leute getroffen, die mehrere Monate in Indien unterwegs waren, und alle hatten sie eine extreme Menge an Geschichten über dieses Land zu erzählen. Dabei gab es einen Satz, der niemals fiel: "Och ja, Indien war ganz nett." Das ist unmöglich. Diesen Satz kann vielleicht auf Uruguay, Lettland oder Slovenien anwenden, aber nie nie nie auf Indien. Indien ist alles Mögliche, aber es ist definitiv nicht ganz nett. Im Grunde lässt das Land nur drei Reaktionen zu: 1) Man liebt es, 2) man hasst es, 3) man hassliebt es.

Woran liegt das? Ich werde hier mal etwas versuchen, was sehr wahrscheinlich nicht funkionieren wird, aber egal: Ich werde versuchen, zu erklären, wie es hier in Indien ist - für Leute, die noch nie da waren. Ist ein kleines Gedankenexperiment. Also, bitte aufpassen: Stellen wir uns eine normale, mäßig befahrene Straße daheim vor, z.B. die Gospertstraße in Eupen. Denken wir die Bürgersteige weg. Stellen wir uns vor, vor einem Jahr seinen sowohl Mülleimer als auch die Müllabfuhr in Eupen abgeschafft worden. Es liegen sehr viele Abfälle herum. Alle paar Meter versucht jemand, Müll zu verbrennen, damit die Straße in den Abfällen nicht verschwindet. Gut, dann steht da im Müll, auf der Straße alle 3 Meter eine Kuh oder ein sehr fetter Stier. Wie jeder weiß, produzieren Kühe auch etwas. Und ich meine nicht Milch. Das liegt da auch überall. Fügen wir der Szene pro Kuh noch jeweils eine Ziege und einen Straßenhund hinzu. Hier und da läuft vielleicht auch eine Horde Affen oder eine Schar Hühner durchs Bild. Alles klar bisher? Wunderbar. Lassen wir durch die Gospertstraße ungefähr genau so viele Autos fahren wie auch üblicherweise daheim, fügen wir dem aber noch jeweils doppelt so viele Fahrradrikschas und Motorräder hinzu. Wie man sich vorstellen kann, wird es jetzt schon ziemlich eng - um das Ärgste zu verhindern und um sich bemerkbar zu machen, hupt bzw. klingelt jeder Fahrer so ziemlich die ganze Zeit. Ganz schön chaotisch, ne? Wir sind aber noch nicht ganz fertig. Fügen wir dem Ganzen noch denselben Menschenandrang hinzu, den man in Eupen eigentlich nur Kirmesfreitags erlebt. (Und falls jetzt jemand meint: "He du, so viele Menschen und so viel Verkehr, und das ohne Bürgersteige - das geht doch gar nicht!" - Doch, das geht! Ich habe es gesehen.) Und fügen wir als I-Tüpfelchen noch hinzu, dass da etwa alle 5 Meter in aller Öffentlichkeit ein Kerl munter und ungeniert durch die Gegend pinkelt, als ob er kein Wässerchen trüben könnte. Weiten wir das Gedankenexperiment am Ende noch aus: Stellen wir uns vor, dass Eupen kein Provinznest von 18.000 Einwohnern ist, sondern eine Großstadt, die mehrere Millionen zählt, und dass es überall, wirklich überall, so abgeht wie in der Gospertstraße. Voilà, Freunde, willkommen in Indien!

Es ist sehr leicht, sich in einer solchen Situation einfach total verloren und überfordert zu fühlen, und ich denke, das ist der Grund, warum es genügend Reisende gibt, die mit diesem Land nichts anfangen können. Und ab und zu ist es auch wirklich total absurd. Wenn ich hier zu Fuß unterwegs bin, kommt es oft genug vor, dass ich meine Gedanken gar nicht zu Ende gedacht bekomme. Keine Ahnung wie oft muss ich plötzlich denken: Halt, Moment mal. Habe ich das gerade wirklich gesehen? Ist das gerade wirklich passiert? Robbt da tatsächlich ein Kerl ohne Beine durch den Straßenverkehr? Haben die hier allen Ernstes eine Zigarettenmarke namens Hitler? Und um Himmels willen, hat da ernsthaft wer zwanzig panikierende Ziegen per Spanngurt an einen Holzkarren gefesselt?

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Ein letztes Bild von Kathmandu (*schmacht*)
Bevor ich die Eingangspforte zu diesem hoffnungslos durchgeknallten Land passiere, steht noch mal ein administratives Spießrutenlaufen an, das der Beschaffung des iranischen Visums eigentlich um nichts nachsteht. Ganze 10 Tage verbringe ich in Kathmandu, bis die dortige indische Botschaft mir grünes Licht gibt und mir ein Visum aushändigt, mit dem ich 4 Monate durchs Land reisen kann. Positiv an der Warterei ist: Mir wächst Kathmandu wirklich ans Herz, und ich glaube wirklich, dass ich hier für mich meine absolute Lieblingsstadt entdeckt habe. Der Abschied - nicht nur von dem Ort selbst, sondern auch von einigen sehr netten Menschen, die ich hier kennengelernt habe - fällt mir sehr viel schwerer als üblich.

Aufgehaltene Erdöl-Transporter an der Grenze
Ich starte meine Reise in den Süden in der frühmorgendlichen Dunkelheit, begebe mich durch die dunklen Straßen Kathmandus zum Bushof, wo ich im letzten Moment noch in den einzigen Bus des Tages Richtung Grenze springen kann. Durchs Land zu reisen ist in Nepal momentan nicht ganz so einfach - Grund ist nicht, wie man annehmen könnte, das Erdbeben, sondern ein unoffizielles Embargo vonseiten Indiens aufgrund einiger politischer Meinungsverschiedenheiten. Dieser Einfuhrstopp macht sich vor allem daran bemerkbar, dass Benzin hier allmählich zur Mangelware wird. Zwar hilft China mittlerweile aus, allerdings ist damit bei Weitem nicht der landesweite Bedarf gedeckt. Für den Landtransport hat dies zur Folge, dass Busse sehr viel seltener und unregelmäßiger fahren als üblich.

Dass es in Richtung Indien geht, macht sich in dem engen Bus an einigen Details bemerkbar. Zum Beispiel sieht der Bus leicht heruntergekommen aus, ist dafür aber mit einem Fernseher ausgestattet, über den (natürlich beim absoluten Lautstärkenmaximum) ein Bollywood-Film gezeigt wird. Diese Bollywood-Streifen sind echt der Hammer. Ich verstehe zwar so gut wie kein Wort, fühle mich aber bestens unterhalten; und dass die grottenschlechten Schauspieler nur von der extremst bescheuerten Handlung unterboten werden, bemerke sogar ich. Am frühen Nachmittag komme ich dann in Bhariahawa an, einem Städtchen unweit der indischen Grenze. Ich befinde mich hier im sogenannten Terai, der Tiefebene im Süden Nepals, die ganz anders aussieht als man sich üblicherweise Nepal vorstellt. Ich quartiere mich in einem billigen und etwas heruntergekommenen Hotel ein - für den Grenzübergang nach Indien will ich ausgeschlafen sein.

Tagsdrauf lasse ich mich per Fahrrad-Rikscha zur 4 Kilometer entlegenen Grenze fahren. Dort läuft dann alles ganz zackig: Nepalesische gegen Indische Rupien wechseln und Exit-Stempel im nepalesische Immigrationsbüro einholen. Dann trete ich durch einen großen Steinbogen, auf dem groß "Welcome to India" steht und hinter dem mich der beißende Geruch von verbrennendem Plastik empfängt. Nachdem ich meinen Reisepass um einen weiteren Eintrittsstempel bereichert habe, finde ich schnell einen Bus, dessen Fahrer behauptet, mich innerhalb von sieben Stunden nach Varanasi bringen zu können. Ich betrete den Bus, ein Kleinkind fängt an zu weinen. Oh mein Gott, ein Weißer!

Die Busfahrt dauert letzten Endes keine 7, sondern 13 Stunden. Ansonsten hält sich aber das Angenehme mit dem Unangenehmen die Waage. Positiv ist: Ich sitze ganz vorne und habe somit totale Beinfreiheit. Negativ ist: Ich sitze genau neben der Hupe. Und mit Hupe meine ich nicht die Hupen, die unsere europäischen Busse haben; ich meine ein Ding Marke Schiffshupe, das eine dreistellige Dezibel-Zahl erzeugt. Und da in Indien immer gehupt wird, wenn man sich einem anderen Fahrzeug bemerkbar machen muss (also quasi die ganze Zeit), ist das alles andere als angenehm für meine Ohren. Mir fällt hier auch auf, dass ich irgendwo in Nepal mein Oropax verloren haben muss - großer Fehler! Eine gute Sache allerdings: Ich finde es während der ganzen Fahrt richtig spannend, einfach nur aus dem Fenster zu schauen. Es läuft zwar kein Bollywood-Film im Bus, aber was draußen abgeht, ist ungefähr genau so schräg. Dass das Land eine unglaublich hohe Bevölkerungsdichte hat und dabei ist, China als bevölkerungsreichsten Staat des Planeten zu überholen, ist ja hinlänglich bekannt; aber es ist etwas ganz anderes, das mit eigenen Augen zu sehen. Es reiht sich eine Stadt an die andere, und überall sind Menschen. Überall. Selbst wenn man mal eine eher dörfliche Gegend durchquert - es ist trotzdem dauernd etwas los. Und das ist eine Sache, die sich einfach nicht in Worte fassen lässt - es gibt auf der Fahrt so viel zu sehen, dass ich kaum etwas anderes machen kann. Zum Glück ist Menschen anstarren hier kein Tabu. Indien ist anstrengend, aber es ist alles andere als langweilig.

Abends komme ich dann in Varanasi an, lasse mich per Tuk-Tuk durch die halbe Stadt fahren und checke in einem Hostel ein. Varanasi - das ist nicht nur die heiligste Stadt des Hinduismus, sondern auch eine der ältesten Städte der Welt. Varanasi (oder Benares oder Kashi; und es gibt noch andere Namen) ist Shiva gewidmet, dem Gott der Zerstörung und der Ekstase; und auf gewisse Weise trifft das den Charakter dieser Stadt ziemlich gut. Varanasi liegt am Ganges. Unzählige Hindus pilgern hierhin, um sich in dem übelst verschmutzten Wasser von ihren Sünden reinzuwaschen. Doch was auch noch viele Menschen hierhin zieht, ist der Tod. Wer in Varanasi stirbt, der erreicht direkt Moksha, den Ausbruch aus dem ewigen Kreislauf der ständigen Wiedergeburten. Unweit der Steintreppen, wo sich die gläubigen Hindus baden, werden Toten verbrannt, bevor ihre Asche in den Fluss gestreut wird.

Alles in allem verbringe ich in Varanasi einige ganz nette Tage, auch wenn mir die Stadt nicht so ganz ans Herz wachsen will. Ich besichtige das Gangesufer, wo die gläubigen Hindus sich waschen oder sich von ihren Toten verabschieden; ich besuche ein Kulturzentrum, das kürzlich von einem sehr sympathischen Pärchen eröffnet wurde; ich lerne einige interessante Dinge über die hinduistische Religion und Mythologie; ich genieße in den Gassen von Varanasis Altstadt einen sehr leckeren Lassi, während an mir mehrere Tote vorbeigetragen werden; und wie es sich in Indien beinahe gehört, bin ich einen Tag lang ordentlich krank.

Nach vier Tagen in Varanasi ist es wieder Zeit, die Zelte abzubrechen. Nachdem es monatelang auf meiner Weltreise allgemein immer Richtung Osten gegangen ist, reise ich jetzt westwärts. Mein ungefährer Plan ist es, über mehrere Stationen nach Agra zu kommen, wo das berühmte Taj Mahal steht, und von dort aus den Wüstenstaat Rajasthan zu erkunden. Und da ich bislang zu faul bin, mich mit dem Reservierungssystem der indischen Züge auseinanderzusetzen, reise ich nicht per Zug, sondern per Bus, was eher untypisch ist, aber gut funktioniert (so lange man nicht neben der Hupe sitzt).

Mein erster Stopp ist nach dreieinhalb Stunden im Bus die Stadt Allahabad, die am Zusammenfluss von Ganges, Sarasvati und Yamuna, dreier Flüsse von großer religiöser Bedeutung für die Hindus, liegt. Nachdem ich in einem billigen Hotel eingecheckt habe, beschließe ich, noch was aus dem Tag zu machen, und organisiere mir einen Rikscha-Transport zum Sangam, der Stelle, wo die drei Flüsse zusammenkommen. Ich habe eigentlich keinen großen Plan, was es dort zu sehen oder zu tun gibt - und einen Plan brauche ich auch nicht wirklich, den haben scheinbar schon andere für mich gefällt.

Als ich untweit des Flussufers aus meiner Motorrikscha aussteige, werde ich direkt von mehreren Indern umzingelt, die mir alle eine Bootsfahrt über Ganges und Yamuna andrehen wollen.
"Boat tour, Sir! Only 600 Rupees!"
Ich für meinen Teil bin gar nicht an einer Bootsfahrt interessiert und versuche, der Anmache zu entkommen - was bei den Bootsmännern nicht auf all zu viel Verständnis stößt. Letztendlich handle ich den Preis auf 200 Rupien herunter und werde von einem der Kerle in ein Boot geleitet. Nachdem ich mich dort hingesetzt habe, eröffnet er mir feierlich:
"Boat tour, Sir! 600 Rupees"
Also die ganze Arbeit wieder von vorne.

Nachdem wir uns schließlich tatsächlich auf die 200 Rupien als Preis für die Bootsfahrt
verständigt haben, fährt er mich auf den Fluss hinaus. Die Aussicht ist wirklich hübsch. Nach einiger Zeit, steuert mein Bootsmann auf ein paar zusammenstehende Boote zu, wo allem Anschein nach einige Familien dabei sind, sich zu waschen. Mein Bootsmann legt an und bedeutet mir, mich aufs andere Schiff zu begeben. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass da etwas nicht stimmt, aber blöd, wie ich bin, gehorche ich natürlich. Man soll ja schließlich auf die Locals zugehen.

Auf dem anderen Boot empfängt mich ein relativ großer Inder mittleren Alters, der mich auf sehr forsche Art einlädt, mich zu setzen. Er holt 3 Kokusnüsse hervor, fragt mich nach meinem Namen nebst denen meiner Eltern, weist mich an, meine Hände auf die Kokusnüsse zu legen, gießt mir etwas Ganges-Wasser über den Kopf (hmmm... wie appetitlich!) und befiehlt mir beinahe, ihm irgendeinen Hokuspokus auf Hindi nachzusprechen. Und schön brav mache ich natürlich mit, obwohl ich irgendwie doch schon weiß, worauf das Ganze hinauslaufen wird...
"500 Rupees!"
Wusst' ich's doch!
Gut, das ist mir jetzt doch zu doof. Ich stehe auf, gehe wieder rüber auf mein Boot, während mein Bootsmann auf der anderen Seite bleibt und schaut, wie sich die Sache entwickelt. Der Kerl mit den Kokusnüssen kommt rüber zu mir, baut sich groß vor mir auf und schreit mich an: "You touched the coconut! 500 Rupees!"

Bei mir kreisen währenddessen die Gedanken. Werde ich heute noch mal an Land kommen, wenn ich nicht bezahle? Könnte ich über den Ganges an Land schwimmen? Wollte ich das machen? (Baaah, alleine der Gedanke schon...) Und wenn ich mein Lösegeld bezahlte, bekäme ich dann zumindest 'ne Kokusnuss geschenkt?

Mein neuer indischer Freund hat mittlerweile die Taktik gewechselt und ist wieder auf sein Boot gegangen, von wo er mich hämisch angrinst. Gut, schau'n wir mal, wer von uns beiden der Hartnäckigere ist. Ich warte und genieße die Aussicht. Er lässt mich währenddessen nicht aus den Augen. Nach einer halben Stunde wird es meinem Bootsfahrer dann doch zu langweilig - er macht unser Boot los und fängt wieder an, zu rudern.
"Ganga River, Sir!"
"Beautiful. Bring me back to the shore!"
"Are you happy with the boat tour?"
"Just bring me to the shore!"
"Baksheesh, Sir?"
...

Eigentlich bin ich beinahe froh, dass mir das mal passiert ist. In Varanasi, einer Stadt, die dafür bekannt ist, dass Touristen da gerne über den Tisch gezogen werden, bin ich nämlich komplett in Ruhe gelassen worden. Ich dachte schon, es stimme etwas nicht mit mir. Das einzige Mal, dass mir da der Kragen geplatzt ist, war, als ich zu Fuß zum Gangesufer unterwegs war und - was hier viel zu selten vorkommt - im Umkreis von mehreren Metern keine andere Person in meiner Nähe hatte. Ein paar Inder warfen mir einen Knallkörper in den Weg, der vor meinen Füßen explodierte. Mein Gehör war für eine Minute komplett weg. Uuuuh, fanden die das lustig. Und uuuuh, schauten die blöd, als ich ihnen lautstark die Meinung sagte.

Tja, Indien. Entweder man liebt es, man hasst es oder man hassliebt es. Wo ich da reinpase - ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Option 1 ist für mich zurzeit echt nicht drin. Und ich habe zu viel guten Willen, um das Land nach einer Woche schon abzuschreiben. Aber Hassliebe bringt es für mich auch nicht auf den Punkt. Die schlechten Momente hier waren bisher richtig richtig fürchterlich; die guten bislang nur... naja, eigentlich ganz nett. Aber zugegeben: Ich bin hier in Uttar Pradesh, und dass es in diesem Staat selbst für indische Verhältnisse heftig zugeht, ist kein Geheimnis. Normalerweise bin ich in ein paar Tagen hier raus. Zugegeben (2): Dass ich mehrere Tage krank war und deshalb in einer wenig einladenden Millionenstadt festsaß, war nicht gerade hilfreich. Und zugegeben (3): Ich habe ja noch so gut wie nichts gesehen. Es gibt so viele Orte in Indien, wo ich hin will und auf die ich so gespannt bin: Kajuraho und das Taj Mahal und Rajasthan und wenn es zeitlich hinhaut Rishikesh; später dann noch Hampi und Goa und Kerala und und und. Es gibt da so vieles. Und deshalb bleibe ich optimistisch und freue mich auf die nächsten Wochen. Und letzten Endes ist es auch ein wirklich spannendes Land. Schließlich weiß ich morgens beim Aufstehen nie, was mir bis zum Ende des Tages alles passiert sein wird. Ich muss mich halt nur daran gewöhnen, dass die hier alle total bekloppt sind.

Und wo ich gerade beim Thema bin: Ich schaue gerade beim Schreiben aus dem Fenster und... Halt, Moment mal. Habe ich das gerade wirklich gesehen? Ist das gerade wirklich passiert? Sitzt da eine Kuh auf dem Dach eines LKWs? Balanciert eine Frau wirklich 5 aufeinander gestapelte Getränkekästen auf ihrem Kopf? Und o mein Gott, hat da gerade ein Elefant ein Auto kaputtgetrampelt!? Die Antwort: nein - nein - und nein. Hab' ich gerade alles erfunden. Was aber nicht heißen soll, dass es nicht hätte passieren können. Ich meine... ist immerhin Indien.