Donnerstag, 17. Dezember 2015

Rajasthan



Ein Schrei, gefolgt von mehreren Fußtritten, reißt mich aus meinem Schlummer. Ich öffne die Augen. Über mir die Gesichter von etwa 20 indischen Männern, die mich alle anstarren. Mir gegenüber sitzt eine junge Mutter, die versucht, ihren zweijährigen Sohn dazu zu bringen, mal ruhig zu sein und sich ihr auf den Schoß zu setzen. Diesem scheint diese Idee aber gar nicht zu gefallen; er schlägt viel Krach und tritt gegen alle möglichen Dinge - Dinge wie zum Beispiel meine Beine. Warum starren die mich alle an, frage ich mich, immer noch im Halbschlaf. Warum machen die Inder das dauernd?

Ich sitze im Zug von Agra nach Jaipur, der Hauptstadt Rajasthans. Hierbei handelt es sich um den flächenmäßig größten, und einigen Meinungen zufolge den schönsten, Staat Indiens. Rajasthan wird oft als Wüstenstaat bezeichnet; die Kühe sind zwar auch hier die geheimen Herren des Landes, aber Kamele stehen direkt an zweiter Stelle. Ich reise wieder einmal nicht alleine, sondern in Begleitung einer etwas hippieesken Italienerin, die aus Sicherheitsgründen den frühmorgendlichen Zug von Agra nach Jaipur nicht alleine nehmen wollte, und von der ich vor allem eines lerne: Dass ich, ganz anders als ich von mir gedacht habe, eine absolute Null im Feilschen bin und mit den allgegenwärtigen Touts immer noch viel zu nett bin. Was für mich bedeutet, dass ich beim Preiseverhandeln mit den Rikschafahrern mich einfach zurücklehnen und machen lassen kann und zudem während der nächsten Tag extrem preisgünstig durchs Land kommen werde.

Mein schönstes Foto aus Jaipur. Naja.
Von Jaipur bekommen wir nicht all zu viel zu sehen. Es ist halt eine Großstadt, in der es bestimmt viel Sehenswertes, aber eben auch viel Krach und Chaos, gibt. Was mir allerdings auffällt, ist, dass Jaipur im Vergleich zu anderen Städten (Varanasi, Allahabad oder auch Kathmandu) etwas entwickelter zu sein scheint. Es gibt sogar Bürgersteige, und die Sache mit dem Müll ist hier auch nicht so stark ausgeprägt.

Da Jaipur uns nicht so sehr zusagt, reisen wir tagsdrauf weiter nach Pushkar. Als wir aus dem Bus steigen, werden wir direkt mal von mehreren Indern umzingelt, die beteuern, sie seien keine Schlepper, allerdings könnten sie uns ein sehr gutes Gasthaus anbieten, ich solle mir doch mal die Fotos auf seinem Handy anschauen, der Preis sei auch sehr gut, in welchem Gasthaus wir vorhätten zu übernachten, nein, das sei ganz schlecht, ganz schlecht, seins sei viel besser, warum ich einfach weggehen wolle, das sei doch so unhöflich, nein, wir sollten auf keinen Fall in diese Richtung gehen, ganz gefährlich Ecke dort... Wir gehen in die Richtung, in der wir unser Gasthaus vermuten, und einer der Schlepper kommt uns doch tatsächlich mit dem Motorrad hinterher; warum wir denn nicht auf ihn hören wollten, wir hätten doch keine Ahnung, so ganz alleine in Indien, sein Gasthaus sei wirklich ganz gut, wir sollten ihm doch wirklich eine Chance lassen und bla bla bla...

Ganz abgesehen von diesem Empfang ist Pushkar eigentlich ein ganz angenehmes Städtchen. Pushkar ist ein weiterer heiliger Ort, den gläubige Hindus einmal in ihrem Leben besuchen sollten; ich frage mich wie viele solche Orte es in Indien eigentlich noch gibt. Gleichzeitig ist es auch ein recht touristischer Ort, dessen Hauptattration zum einen in einem Markt entlang des heiligen Sees der Stadt besteht, auf dem man Tee, Gewürze, Räucherstäbchen, Hippie-Klamotten, indische Handwerkskunst, Schmuck, Kunstwerke unterschiedlicher Qualität, Musikinstrumente und was weiß ich sonst noch alles kaufen kann. Zum anderen kann man hier auch einfach sehr gut abschalten.

Wir kommen - ohne Beihilfe irgendwelcher Touts - in einem Gasthaus unter, das von einer sympathischen indischen Familie geführt wird (sympathisch bis auf die Tatsache, dass die versuchen, mich mit einer ihrer Cousinen zu verkuppeln, nein danke, aber ich fühle mich geschmeichelt...), und statt der 2 Tage, die ich vorhatte, hier zu verbringen, bleibe ich ganze fünf. Einige irgendwie typisch indische Reisemomente, die ich hier habe: Die allgegenwärtigen, sehr lauten und sehr bunten Hochzeitsprozessionen, die es ab und zu erschweren, in der Stadt von A nach B zu kommen (versucht man, sich an den Festzügen vorbeizuquetschen, kann es sein, dass man dazu gedrängt wird, mitzutanzen).
Der Kerl, der mir anbietet, mich für 20 Rupien auf seinem Holzkarren (einem bloßen Brett mit vier Rädern) überall hinzuschieben, wo ich mag. Live mitzuerleben, wie mitten auf der Straße ein Kalb zur Welt kommt. Von einer Gruppe Kinder auf der Straße einfach so darum gebeten werden, mit meiner Kamera ein Gruppenfoto von ihnen zu machen. Am hellichten Tag von einer heiligen Kuh angegriffen werden (ich gehe nichts Böses denkend durch die Straße, als die Kuh mir von der Seite ein Horn in die Hüfte rammt; ich laufe weg, die Kuh mir hinterher, keine Ahnung, was die von mir wollte). Augenzeuge sein, als zwei Affen gegeneinander kämpfen und sich gegenseitig verfolgen, und dabei mehrere Läden und Verkaufsstände verwüsten. Solche Augenblicke sind mir irgendwie mehr wert, als x-tausend Sehenswürdigkeiten in kürzester Zeit anzuschauen.

Mit Pushkar scheine ich einen neuen Lieblingsort in Indien entdeckt zu haben; aber da in zwei Wochen mein Flieger nach Normalistan geht und ich doch noch einiges vom Land sehen will, muss es irgendwann weiter gehen. Ich nehme den Zug von Pushkar nach Jodhpur. Wieder auf mich alleine gestellt, kommt es bei meiner Ankunft dort zum üblichen Prozedere: Rikscha-Fahrer kommt am Ausgang des Bahnhofs auf mich zu, ich frage, ob er mich da und da hinfahren kann; er: kein Problem; ich frage nach dem Preis; er: 100 Rupien; ich lache mich kaputt; er: okay, 60 Rupien; ich: nichts da, 40 Rupien; er: 50 Rupien; ich: nö, 40; er: dann geh' doch zu Fuß; ich gehe los; er mir mit der Rikscha hinterher: okay, ich fahr dich für 40 Rupien. Tadaa!

Jodhpur wird auch als "blaue Stadt" bezeichnet, aufgrund der Farbe der Häuserfassaden in der Altstadt. Die blaue Farbe soll die Häuser kühlen und vor Moskitos schützen - Ähnliches lässt sich auch in einigen Städten in Marokko beobachten. Ich verbringe einen Tag in Jodhpur, besichtige die ziemlich beeindruckende Festung über der Stadt, in der sich die Maharjas, die damaligen Herrscher Rajasthans, im 19. Jahrhundert verschantzt hatten; und ich bekomme von einer sehr netten Inderin beigebracht, wie man einen typisch indischen Massala-Tee zubereitet.

Tagsdrauf geht es weiter nach Udaipur. Im Bus bekomme ich einen Luxus-Platz in der Fahrerkabine neben dem andauernd fröhlich vor sich hin rülpsenden Fahrer - was bedeutet: Wieder mal sieben Stunden Busfahrt direkt neben der Hupe, was für ein Spaß. Abgesehen von diesem fraglichen Vergnügen ist die Fahrt aber eigentlich richtig gut: Es geht durch eine sehr schöne grüne, gebirgige Landschaft, die ganz anders aussieht, als man ich mir den "Wüstenstaat" vorgestellt habe. Hier und da sehe ich auch, wie am Straßenrand eine tote Kuh von Tieren verspeist wird, die ich auf die Schnelle nicht identifizieren kann. Auch geht die Fahrt sehr viel schneller voran als in Uttar/Madhya Pradesh, da es hier in Rajasthan Autobahnen gibt, die sogar richtig gut unterhalten sind, ich würde sogar sagen: europäisches Niveau. Einziges Risiko: Geisterfahrer scheinen hier an der Tagesordnung zu sein.

Udaipur ist auch wieder eine sehr schöne Stadt, die mitunter als indisches Venedig vermarktet wird und in der Octopussy, einer der schlechtesten James-Bond-Filme, gedreht wurde; dieser wird hier auch in zahlreichen Restaurants gezeigt - mir tun die armen Kellner leid. Mein erster Eindruck von Udaipur, direkt nach meiner Ankunft: Hui, da läuft ja ein Elefant durch den Verkehr! Mein zweiter Eindruck, nachdem ich in meinem Gasthaus eingecheckt habe: Olalah, die Aussicht auf den See und den Palast am Ufer, spärlich beleuchtet durch das ausgehende Licht der hinter dem Horizont verschwindenen Sonne, ist ja richtig romantisch!

Abgesehen von dem wirklich sehr schönen See habe ich aber einige Schwierigkeiten mit Udaipur. Die Einheimischen in der Touristenzone sind sehr freundlich, sie alle sind meine Freunde (zumindest nennen sie mich alle "my friend"), sie alle wissen, dass Belgien ein "very good country" ist, und sie alle haben einen Laden, in dem sie mir, und natürlich nur mir, bereit sind, einen sehr guten Preis machen. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass sich diese Masche bei mir nach einem Monat in Indien irgendwie abgenutzt hat, oder daran, dass die Ladenbesitzer hier tatsächlich aufdringlicher sind als in Agra und Varanasi, aber Udaipur ist die erste Stadt in Indien, wo ich auf dieses Verhalten ziemlich gereizt reagiere. Die Leute sind zwar tatsächlich sehr nett, und es gibt in den Läden oft auch coole Sachen zu sehen, und dass die Händler einem etwas verkaufen wollen, heißt auch nicht zwangsläufig, dass man sich nicht mit ihnen ein paar Minuten nett unterhalten kann; aber es ist gleichzeitig auch ziemlich anstrengend, andauernd dieselben Fragen beantworten zu müssen und in jeden Shop eingeladen zu werden.

Bundi
Weiter geht es nach Bundi, meinem letzten Halt in Rajasthan. Wieder mal eine Busfahrt, bei der der Fahrer in jeder angefahrenen Stadt zuerst mal jede einzelne Straße zu passieren scheint, sodass die Reise wieder einmal zehn statt der angekündigten sechs Stunden dauert. Mein Sitznachbar - ein freundlicher, wenn auch etwas lästiger Musiker/Frisör/Tattoo-Artist - zeigt mir auf seinem Handy ein grauenhaftes Musikvideo nach dem anderem. Obwohl Bundi auch als eines der Highlights Rajasthans gilt, erscheint mir die Stadt sehr viel weniger touristisch als Pushkar, Jodhpur oder Udaipur, was mir sehr gefällt - vor allem Udaipur wirkte auf mich ein wenig künstlich. Einige würden vielleicht sagen, die Stadt wirke heruntergekommen - ich finde sie authentisch. Das bedeutet vor allem auch, dass selbst nahe der Sehenswürdigkeiten Bundis die Leute mir weitaus weniger mit ihrem ewigen "Hello, my friend, want to see my shop? Good price!" auf die Nerven gehen. In Bundi lasse ich meine Reise durch den Norden Indiens ausklingen: Ich belege einen Kochunterricht, bei dem mehrere indische Rezepte erlerne und ich leihe mir einen Roller aus, mit dem ich ein wenig die Dörfer in der Umgebung der Stadt erkunde.

Halbzeit auf der Weltreise. Wobei das Ende ja eigentlich offen ist. Meine weiteren Pläne sehen folgendermaßen aus: Am 19. fahre ich mit dem Nachtzug von Bundi nach Delhi, von wo aus ich am 21. den Flieger nach Brüssel nehme. Weihnachten und Neujahr daheim, bei hoffentlich nicht zu kalten Temperaturen. Und am 7. Januar geht das Abenteuer dann weiter. Fortsetzung folgt.

Pushkar


Pushkar am Morgen...

... und am Abend. Ich mag dich auch, Sonne.

Jodhpur

Jodhpur

Jodhpur

Aussicht auf Jodhpur mit photobombing Hund

Rote Sonne, blaue Stadt

Ooooooooh, wie süüüüüüüüß!

Bundi und ein bisschen indischer Alltagswahnsinn

Bundi

Bundi

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