Samstag, 21. November 2015

Bei den Bekloppten


Oje, Indien.

Habe ich vor einigen Monaten tatsächlich den Verkehr in Istanbul als chaotisch beschrieben? Habe ich wirklich die Taxifahrer im Iran als lästig und aufdringlich bezeichnet? Habe ich wirklich behauptet, Kathmandu sei "laut, stressig und verdreckt"? Ach, ist das süß... So jung, so naiv. Ich hatte ja wirklich gar keine Ahnung!

Indien, das ist für viele Langzeit-Rucksackreisende, wie man sie in Hostels oder Gasthäusern ständig trifft, das Non Plus Ultra. Ich habe auf meiner Reise unzählige Leute getroffen, die mehrere Monate in Indien unterwegs waren, und alle hatten sie eine extreme Menge an Geschichten über dieses Land zu erzählen. Dabei gab es einen Satz, der niemals fiel: "Och ja, Indien war ganz nett." Das ist unmöglich. Diesen Satz kann vielleicht auf Uruguay, Lettland oder Slovenien anwenden, aber nie nie nie auf Indien. Indien ist alles Mögliche, aber es ist definitiv nicht ganz nett. Im Grunde lässt das Land nur drei Reaktionen zu: 1) Man liebt es, 2) man hasst es, 3) man hassliebt es.

Woran liegt das? Ich werde hier mal etwas versuchen, was sehr wahrscheinlich nicht funkionieren wird, aber egal: Ich werde versuchen, zu erklären, wie es hier in Indien ist - für Leute, die noch nie da waren. Ist ein kleines Gedankenexperiment. Also, bitte aufpassen: Stellen wir uns eine normale, mäßig befahrene Straße daheim vor, z.B. die Gospertstraße in Eupen. Denken wir die Bürgersteige weg. Stellen wir uns vor, vor einem Jahr seinen sowohl Mülleimer als auch die Müllabfuhr in Eupen abgeschafft worden. Es liegen sehr viele Abfälle herum. Alle paar Meter versucht jemand, Müll zu verbrennen, damit die Straße in den Abfällen nicht verschwindet. Gut, dann steht da im Müll, auf der Straße alle 3 Meter eine Kuh oder ein sehr fetter Stier. Wie jeder weiß, produzieren Kühe auch etwas. Und ich meine nicht Milch. Das liegt da auch überall. Fügen wir der Szene pro Kuh noch jeweils eine Ziege und einen Straßenhund hinzu. Hier und da läuft vielleicht auch eine Horde Affen oder eine Schar Hühner durchs Bild. Alles klar bisher? Wunderbar. Lassen wir durch die Gospertstraße ungefähr genau so viele Autos fahren wie auch üblicherweise daheim, fügen wir dem aber noch jeweils doppelt so viele Fahrradrikschas und Motorräder hinzu. Wie man sich vorstellen kann, wird es jetzt schon ziemlich eng - um das Ärgste zu verhindern und um sich bemerkbar zu machen, hupt bzw. klingelt jeder Fahrer so ziemlich die ganze Zeit. Ganz schön chaotisch, ne? Wir sind aber noch nicht ganz fertig. Fügen wir dem Ganzen noch denselben Menschenandrang hinzu, den man in Eupen eigentlich nur Kirmesfreitags erlebt. (Und falls jetzt jemand meint: "He du, so viele Menschen und so viel Verkehr, und das ohne Bürgersteige - das geht doch gar nicht!" - Doch, das geht! Ich habe es gesehen.) Und fügen wir als I-Tüpfelchen noch hinzu, dass da etwa alle 5 Meter in aller Öffentlichkeit ein Kerl munter und ungeniert durch die Gegend pinkelt, als ob er kein Wässerchen trüben könnte. Weiten wir das Gedankenexperiment am Ende noch aus: Stellen wir uns vor, dass Eupen kein Provinznest von 18.000 Einwohnern ist, sondern eine Großstadt, die mehrere Millionen zählt, und dass es überall, wirklich überall, so abgeht wie in der Gospertstraße. Voilà, Freunde, willkommen in Indien!

Es ist sehr leicht, sich in einer solchen Situation einfach total verloren und überfordert zu fühlen, und ich denke, das ist der Grund, warum es genügend Reisende gibt, die mit diesem Land nichts anfangen können. Und ab und zu ist es auch wirklich total absurd. Wenn ich hier zu Fuß unterwegs bin, kommt es oft genug vor, dass ich meine Gedanken gar nicht zu Ende gedacht bekomme. Keine Ahnung wie oft muss ich plötzlich denken: Halt, Moment mal. Habe ich das gerade wirklich gesehen? Ist das gerade wirklich passiert? Robbt da tatsächlich ein Kerl ohne Beine durch den Straßenverkehr? Haben die hier allen Ernstes eine Zigarettenmarke namens Hitler? Und um Himmels willen, hat da ernsthaft wer zwanzig panikierende Ziegen per Spanngurt an einen Holzkarren gefesselt?

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Ein letztes Bild von Kathmandu (*schmacht*)
Bevor ich die Eingangspforte zu diesem hoffnungslos durchgeknallten Land passiere, steht noch mal ein administratives Spießrutenlaufen an, das der Beschaffung des iranischen Visums eigentlich um nichts nachsteht. Ganze 10 Tage verbringe ich in Kathmandu, bis die dortige indische Botschaft mir grünes Licht gibt und mir ein Visum aushändigt, mit dem ich 4 Monate durchs Land reisen kann. Positiv an der Warterei ist: Mir wächst Kathmandu wirklich ans Herz, und ich glaube wirklich, dass ich hier für mich meine absolute Lieblingsstadt entdeckt habe. Der Abschied - nicht nur von dem Ort selbst, sondern auch von einigen sehr netten Menschen, die ich hier kennengelernt habe - fällt mir sehr viel schwerer als üblich.

Aufgehaltene Erdöl-Transporter an der Grenze
Ich starte meine Reise in den Süden in der frühmorgendlichen Dunkelheit, begebe mich durch die dunklen Straßen Kathmandus zum Bushof, wo ich im letzten Moment noch in den einzigen Bus des Tages Richtung Grenze springen kann. Durchs Land zu reisen ist in Nepal momentan nicht ganz so einfach - Grund ist nicht, wie man annehmen könnte, das Erdbeben, sondern ein unoffizielles Embargo vonseiten Indiens aufgrund einiger politischer Meinungsverschiedenheiten. Dieser Einfuhrstopp macht sich vor allem daran bemerkbar, dass Benzin hier allmählich zur Mangelware wird. Zwar hilft China mittlerweile aus, allerdings ist damit bei Weitem nicht der landesweite Bedarf gedeckt. Für den Landtransport hat dies zur Folge, dass Busse sehr viel seltener und unregelmäßiger fahren als üblich.

Dass es in Richtung Indien geht, macht sich in dem engen Bus an einigen Details bemerkbar. Zum Beispiel sieht der Bus leicht heruntergekommen aus, ist dafür aber mit einem Fernseher ausgestattet, über den (natürlich beim absoluten Lautstärkenmaximum) ein Bollywood-Film gezeigt wird. Diese Bollywood-Streifen sind echt der Hammer. Ich verstehe zwar so gut wie kein Wort, fühle mich aber bestens unterhalten; und dass die grottenschlechten Schauspieler nur von der extremst bescheuerten Handlung unterboten werden, bemerke sogar ich. Am frühen Nachmittag komme ich dann in Bhariahawa an, einem Städtchen unweit der indischen Grenze. Ich befinde mich hier im sogenannten Terai, der Tiefebene im Süden Nepals, die ganz anders aussieht als man sich üblicherweise Nepal vorstellt. Ich quartiere mich in einem billigen und etwas heruntergekommenen Hotel ein - für den Grenzübergang nach Indien will ich ausgeschlafen sein.

Tagsdrauf lasse ich mich per Fahrrad-Rikscha zur 4 Kilometer entlegenen Grenze fahren. Dort läuft dann alles ganz zackig: Nepalesische gegen Indische Rupien wechseln und Exit-Stempel im nepalesische Immigrationsbüro einholen. Dann trete ich durch einen großen Steinbogen, auf dem groß "Welcome to India" steht und hinter dem mich der beißende Geruch von verbrennendem Plastik empfängt. Nachdem ich meinen Reisepass um einen weiteren Eintrittsstempel bereichert habe, finde ich schnell einen Bus, dessen Fahrer behauptet, mich innerhalb von sieben Stunden nach Varanasi bringen zu können. Ich betrete den Bus, ein Kleinkind fängt an zu weinen. Oh mein Gott, ein Weißer!

Die Busfahrt dauert letzten Endes keine 7, sondern 13 Stunden. Ansonsten hält sich aber das Angenehme mit dem Unangenehmen die Waage. Positiv ist: Ich sitze ganz vorne und habe somit totale Beinfreiheit. Negativ ist: Ich sitze genau neben der Hupe. Und mit Hupe meine ich nicht die Hupen, die unsere europäischen Busse haben; ich meine ein Ding Marke Schiffshupe, das eine dreistellige Dezibel-Zahl erzeugt. Und da in Indien immer gehupt wird, wenn man sich einem anderen Fahrzeug bemerkbar machen muss (also quasi die ganze Zeit), ist das alles andere als angenehm für meine Ohren. Mir fällt hier auch auf, dass ich irgendwo in Nepal mein Oropax verloren haben muss - großer Fehler! Eine gute Sache allerdings: Ich finde es während der ganzen Fahrt richtig spannend, einfach nur aus dem Fenster zu schauen. Es läuft zwar kein Bollywood-Film im Bus, aber was draußen abgeht, ist ungefähr genau so schräg. Dass das Land eine unglaublich hohe Bevölkerungsdichte hat und dabei ist, China als bevölkerungsreichsten Staat des Planeten zu überholen, ist ja hinlänglich bekannt; aber es ist etwas ganz anderes, das mit eigenen Augen zu sehen. Es reiht sich eine Stadt an die andere, und überall sind Menschen. Überall. Selbst wenn man mal eine eher dörfliche Gegend durchquert - es ist trotzdem dauernd etwas los. Und das ist eine Sache, die sich einfach nicht in Worte fassen lässt - es gibt auf der Fahrt so viel zu sehen, dass ich kaum etwas anderes machen kann. Zum Glück ist Menschen anstarren hier kein Tabu. Indien ist anstrengend, aber es ist alles andere als langweilig.

Abends komme ich dann in Varanasi an, lasse mich per Tuk-Tuk durch die halbe Stadt fahren und checke in einem Hostel ein. Varanasi - das ist nicht nur die heiligste Stadt des Hinduismus, sondern auch eine der ältesten Städte der Welt. Varanasi (oder Benares oder Kashi; und es gibt noch andere Namen) ist Shiva gewidmet, dem Gott der Zerstörung und der Ekstase; und auf gewisse Weise trifft das den Charakter dieser Stadt ziemlich gut. Varanasi liegt am Ganges. Unzählige Hindus pilgern hierhin, um sich in dem übelst verschmutzten Wasser von ihren Sünden reinzuwaschen. Doch was auch noch viele Menschen hierhin zieht, ist der Tod. Wer in Varanasi stirbt, der erreicht direkt Moksha, den Ausbruch aus dem ewigen Kreislauf der ständigen Wiedergeburten. Unweit der Steintreppen, wo sich die gläubigen Hindus baden, werden Toten verbrannt, bevor ihre Asche in den Fluss gestreut wird.

Alles in allem verbringe ich in Varanasi einige ganz nette Tage, auch wenn mir die Stadt nicht so ganz ans Herz wachsen will. Ich besichtige das Gangesufer, wo die gläubigen Hindus sich waschen oder sich von ihren Toten verabschieden; ich besuche ein Kulturzentrum, das kürzlich von einem sehr sympathischen Pärchen eröffnet wurde; ich lerne einige interessante Dinge über die hinduistische Religion und Mythologie; ich genieße in den Gassen von Varanasis Altstadt einen sehr leckeren Lassi, während an mir mehrere Tote vorbeigetragen werden; und wie es sich in Indien beinahe gehört, bin ich einen Tag lang ordentlich krank.

Nach vier Tagen in Varanasi ist es wieder Zeit, die Zelte abzubrechen. Nachdem es monatelang auf meiner Weltreise allgemein immer Richtung Osten gegangen ist, reise ich jetzt westwärts. Mein ungefährer Plan ist es, über mehrere Stationen nach Agra zu kommen, wo das berühmte Taj Mahal steht, und von dort aus den Wüstenstaat Rajasthan zu erkunden. Und da ich bislang zu faul bin, mich mit dem Reservierungssystem der indischen Züge auseinanderzusetzen, reise ich nicht per Zug, sondern per Bus, was eher untypisch ist, aber gut funktioniert (so lange man nicht neben der Hupe sitzt).

Mein erster Stopp ist nach dreieinhalb Stunden im Bus die Stadt Allahabad, die am Zusammenfluss von Ganges, Sarasvati und Yamuna, dreier Flüsse von großer religiöser Bedeutung für die Hindus, liegt. Nachdem ich in einem billigen Hotel eingecheckt habe, beschließe ich, noch was aus dem Tag zu machen, und organisiere mir einen Rikscha-Transport zum Sangam, der Stelle, wo die drei Flüsse zusammenkommen. Ich habe eigentlich keinen großen Plan, was es dort zu sehen oder zu tun gibt - und einen Plan brauche ich auch nicht wirklich, den haben scheinbar schon andere für mich gefällt.

Als ich untweit des Flussufers aus meiner Motorrikscha aussteige, werde ich direkt von mehreren Indern umzingelt, die mir alle eine Bootsfahrt über Ganges und Yamuna andrehen wollen.
"Boat tour, Sir! Only 600 Rupees!"
Ich für meinen Teil bin gar nicht an einer Bootsfahrt interessiert und versuche, der Anmache zu entkommen - was bei den Bootsmännern nicht auf all zu viel Verständnis stößt. Letztendlich handle ich den Preis auf 200 Rupien herunter und werde von einem der Kerle in ein Boot geleitet. Nachdem ich mich dort hingesetzt habe, eröffnet er mir feierlich:
"Boat tour, Sir! 600 Rupees"
Also die ganze Arbeit wieder von vorne.

Nachdem wir uns schließlich tatsächlich auf die 200 Rupien als Preis für die Bootsfahrt
verständigt haben, fährt er mich auf den Fluss hinaus. Die Aussicht ist wirklich hübsch. Nach einiger Zeit, steuert mein Bootsmann auf ein paar zusammenstehende Boote zu, wo allem Anschein nach einige Familien dabei sind, sich zu waschen. Mein Bootsmann legt an und bedeutet mir, mich aufs andere Schiff zu begeben. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass da etwas nicht stimmt, aber blöd, wie ich bin, gehorche ich natürlich. Man soll ja schließlich auf die Locals zugehen.

Auf dem anderen Boot empfängt mich ein relativ großer Inder mittleren Alters, der mich auf sehr forsche Art einlädt, mich zu setzen. Er holt 3 Kokusnüsse hervor, fragt mich nach meinem Namen nebst denen meiner Eltern, weist mich an, meine Hände auf die Kokusnüsse zu legen, gießt mir etwas Ganges-Wasser über den Kopf (hmmm... wie appetitlich!) und befiehlt mir beinahe, ihm irgendeinen Hokuspokus auf Hindi nachzusprechen. Und schön brav mache ich natürlich mit, obwohl ich irgendwie doch schon weiß, worauf das Ganze hinauslaufen wird...
"500 Rupees!"
Wusst' ich's doch!
Gut, das ist mir jetzt doch zu doof. Ich stehe auf, gehe wieder rüber auf mein Boot, während mein Bootsmann auf der anderen Seite bleibt und schaut, wie sich die Sache entwickelt. Der Kerl mit den Kokusnüssen kommt rüber zu mir, baut sich groß vor mir auf und schreit mich an: "You touched the coconut! 500 Rupees!"

Bei mir kreisen währenddessen die Gedanken. Werde ich heute noch mal an Land kommen, wenn ich nicht bezahle? Könnte ich über den Ganges an Land schwimmen? Wollte ich das machen? (Baaah, alleine der Gedanke schon...) Und wenn ich mein Lösegeld bezahlte, bekäme ich dann zumindest 'ne Kokusnuss geschenkt?

Mein neuer indischer Freund hat mittlerweile die Taktik gewechselt und ist wieder auf sein Boot gegangen, von wo er mich hämisch angrinst. Gut, schau'n wir mal, wer von uns beiden der Hartnäckigere ist. Ich warte und genieße die Aussicht. Er lässt mich währenddessen nicht aus den Augen. Nach einer halben Stunde wird es meinem Bootsfahrer dann doch zu langweilig - er macht unser Boot los und fängt wieder an, zu rudern.
"Ganga River, Sir!"
"Beautiful. Bring me back to the shore!"
"Are you happy with the boat tour?"
"Just bring me to the shore!"
"Baksheesh, Sir?"
...

Eigentlich bin ich beinahe froh, dass mir das mal passiert ist. In Varanasi, einer Stadt, die dafür bekannt ist, dass Touristen da gerne über den Tisch gezogen werden, bin ich nämlich komplett in Ruhe gelassen worden. Ich dachte schon, es stimme etwas nicht mit mir. Das einzige Mal, dass mir da der Kragen geplatzt ist, war, als ich zu Fuß zum Gangesufer unterwegs war und - was hier viel zu selten vorkommt - im Umkreis von mehreren Metern keine andere Person in meiner Nähe hatte. Ein paar Inder warfen mir einen Knallkörper in den Weg, der vor meinen Füßen explodierte. Mein Gehör war für eine Minute komplett weg. Uuuuh, fanden die das lustig. Und uuuuh, schauten die blöd, als ich ihnen lautstark die Meinung sagte.

Tja, Indien. Entweder man liebt es, man hasst es oder man hassliebt es. Wo ich da reinpase - ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Option 1 ist für mich zurzeit echt nicht drin. Und ich habe zu viel guten Willen, um das Land nach einer Woche schon abzuschreiben. Aber Hassliebe bringt es für mich auch nicht auf den Punkt. Die schlechten Momente hier waren bisher richtig richtig fürchterlich; die guten bislang nur... naja, eigentlich ganz nett. Aber zugegeben: Ich bin hier in Uttar Pradesh, und dass es in diesem Staat selbst für indische Verhältnisse heftig zugeht, ist kein Geheimnis. Normalerweise bin ich in ein paar Tagen hier raus. Zugegeben (2): Dass ich mehrere Tage krank war und deshalb in einer wenig einladenden Millionenstadt festsaß, war nicht gerade hilfreich. Und zugegeben (3): Ich habe ja noch so gut wie nichts gesehen. Es gibt so viele Orte in Indien, wo ich hin will und auf die ich so gespannt bin: Kajuraho und das Taj Mahal und Rajasthan und wenn es zeitlich hinhaut Rishikesh; später dann noch Hampi und Goa und Kerala und und und. Es gibt da so vieles. Und deshalb bleibe ich optimistisch und freue mich auf die nächsten Wochen. Und letzten Endes ist es auch ein wirklich spannendes Land. Schließlich weiß ich morgens beim Aufstehen nie, was mir bis zum Ende des Tages alles passiert sein wird. Ich muss mich halt nur daran gewöhnen, dass die hier alle total bekloppt sind.

Und wo ich gerade beim Thema bin: Ich schaue gerade beim Schreiben aus dem Fenster und... Halt, Moment mal. Habe ich das gerade wirklich gesehen? Ist das gerade wirklich passiert? Sitzt da eine Kuh auf dem Dach eines LKWs? Balanciert eine Frau wirklich 5 aufeinander gestapelte Getränkekästen auf ihrem Kopf? Und o mein Gott, hat da gerade ein Elefant ein Auto kaputtgetrampelt!? Die Antwort: nein - nein - und nein. Hab' ich gerade alles erfunden. Was aber nicht heißen soll, dass es nicht hätte passieren können. Ich meine... ist immerhin Indien.











Samstag, 7. November 2015

Das Dach der Welt (Teil 2)



Tagelang durch die entlegentsten Gegenden des Himalaya kraxeln, in Zelten übernachten, sich mit den Einheimischen nur per Zeichensprache verständigen können und sich abends nur von Yakkutteln ernähren - all dies ist der Annapurna-Circuit nicht. Man stellt sich eine Tour durch den Himalaya ja gerne als das ultimative Outdoor-Abenteuer vor; Fakt ist aber, dass es sich hierbei um ein sehr kommerzielles und auf westliche Touristen zugeschnittenes Abenteuer handelt. Nicht umsonst wird dieser Fernwanderweg von erfahrenen Himalaya-Kennern als "Teahouse-Trek" belächelt. Übernachtungsmöglichkeiten sind quasi in jedem Dorf vorhanden, Verständigung läuft problemlos, das Wegenetz ist absolut idiotensicher, und auf den Menüs der Gasthäuser findet man solch unglaublich typische nepalesische Gerichte wie Pizza, Burger oder Spaghetti. Hinzu kommt, dass in der Annapurna-Conservation-Area seit einigen Jahren eine Straße ausgebaut wird, durch die die ganze Region ein gutes Stück weniger entlegen geworden ist.

Luxuriös ist der Annapurna-Circuit trotzdem nicht. Die Gasthäuser sind selten gut isoliert, was bedeutet, dass man sich nachts gut einpacken muss. Toiletten sind meistens ein bloßes Loch im Boden und obwohl sich viele Gasthäuser mit "24 Hours Hot Shower" anpreisen, werden notorische Warmduscher hier selten glücklich. Und auch wenn der Rundweg für durchschnittlich fitte Personen problemlos zu bewältigen ist, gilt es doch immer, die Höhe zu berücksichtigen - das ist tatsächlich die größte Gefahr auf dem Circuit.

Bevor das alles hier zu negativ klingt, möchte ich noch anmerkern: War trotzdem schön. So, und jetzt geht's weiter mit der Zusammenfassung des Treks. Wir haben es bis nach Manag auf 3540 Metern über dem Meeresspiegel geschafft und somit den ersten großen Abschnitt des Rundwegs abgeschlossen.

Tag 7: Wie üblich wache ich kurz vor 6 Uhr auf, als ich plötzlich der Tatsache gewahr werde, dass ich heute ausschlafen kann. Kein Aufstehen und Sachen Packen bei eisiger Kälte - wie erfreulich! Wir verbringen den Tag in und um Manang, wandern morgens auf einen Aussichtspunkt auf 3800 m rauf, und das ohne Rucksack - es fühlt sich an wie fliegen! Nachmittags wohnen wir dann einer Präsentation zum Thema Höhenkrankheit und ich gehe dann später noch in einem etwas zusammenimprovisierten, rustikalen Kino einen nepalesischen Film anschauen.




Aussicht auf Manang

Kinoprogramm in Manang


Tag 8: Nachdem wir während der letzten zwei Tage x Mal unsere Pläne geändert haben, wie es mit dem Trek weiter gehen soll, beschließen wir, keinen Sidetrip einzulegen, sondern stattdessen direkt weiter Richtung Thorung-La-Pass zu gehen. Die nächste Etappe bringt uns nach Ledar (4200 m) und führt uns erneut durch unglaublich schöne Landschaften. Nicht nur überwinden wir heute letztendlich die Baumgrenze - auch überschreiten wir heute den Punkt, ab dem keine motorisierten Transportmittel mehr zugelassen sind, was sich an der Luftqualität stark bemerkbar macht.

Nach guten 3 Stunden wandern erreichen wir Ledar, ein Dorf von vielleicht 5 Häusern, um
welches herum mehrere Fünf- und Sechstausender in den Himmel ragen. Uns beiden wird
hier wirklich klar, wie weit wir von allem entfernt sind. Alles ist unglaublich ruhig, die Luft ist wie gesagt Lichtajahre entfernt von der in Kathmandu, WiFi und Handynetz gibt es hier auch keins. Wir fühlen uns wirklich wie in einer anderen Welt. Da passt es auch ganz gut, dass wir hier zwei Außerirdischen begegnen, die sich als Deutsche getarnt scheinbar ein paar Wochen Urlaub auf der Erde gönnen. Bereis tagsüber fallen uns die beiden auf (wir taufen sie Mannfred und Günnther, mit zwei N jeweils, um keinem Manfred oder Günther dieses Planeten auf den Fuß zu treten) mit der unglaublich intelligenten Diskussion darüber, dass es doch unmöglich sei, dass die Sonne auf dem Berg länger sichtbar sei als im Tal; schließlich gehe die Sonne am Ende des Tages unter, bewege sich also Richtung Tal - logisch? (nein.) Am Abend - wir sind beide schon eingeschlafen - unterhalten uns Mannfred und Günnther mit einer etwa einstündigen Slapstick-Einlage vor der Tür unseres Zimmers, während der sie vergeblich versuchen, sich die Schuhe auszuziehen und die Tür zu ihrem Zimmer zu schließen. Dass die beiden zudem unser Zimmer etwa zwanzig Mal mit der Toilette verwechseln, gibt der Situation einen etwas verstörenden Touch. Was die Höhenluft mit intelligenten Individuen alles anstellen kann... schrecklich, schrecklich...




Ledar



Tag 9: Wir brechen recht früh auf, nicht zuletzt, um Mannfred und Günnther aus dem Weg zu gehen. Die heutige Tagesetappe wird zwar eher kurz, beinhaltet dafür aber zwei anstrengende Aufstiege, von denen der zweite uns vom Thorung-La-Base-Camp (4450 m) zum Thorung-La-High-Camp (4925 m) hinaufführt. Viele Wanderer bevorzugen es, im tiefer gelegenen Base Camp zu nächtigen, da hier das Höhenkrankheits-Risiko niedriger ist. Wir für unseren Teil sind aber froh, den anstrengenden Aufstieg zum High Camp hinter uns zu haben - der nächste Tag wird noch heftig genug. Am Nachmittag leide ich tatsächlich ein wenig an der Höhenluft - ich habe leichte Kopfschmerzen und fühle mich ein wenig neben der Spur; allerdings wird es nicht so schlimm, dass ich zum Base Camp zurückkehren müsste. Wir verbrigen, wie ziemlich viele andere Wanderer, den Rest des Tages im Restaurant des High Camps, wo die Spannung vor der kommenden Tagesetappe förmlich spürbar ist.



Thorung-La-Base-Camp


Aussicht aufs High Camp



Tag 10: Der Nachthimmel, der mich um 4 Uhr morgens im High Camp begrüßt, ist der schönste, den ich je gesehen habe. Es befinden sich also keine Wolken am Himmel - das ist schon mal vielversprechend. Wir brechen um halb 6 zusammen mit der aufgehenden Sonne auf; viele Wanderer - darunter Mannfred und Günnther - sind allerdings schon in dunkelster Nacht mit Taschenlampen losgezogen. Heute steht die Etappe an, vor der so gut wie jeder auf dem Annapurna-Circuit zittert: der Aufstieg zum Thorung-La-Pass (5416 m) mit dem anschließenden Abstieg nach Muktinath (3760 m). Ich für meinen Teil habe mir diesen Tag schon vor Monaten ausgemalt und mir dabei Szenarien vorgestellt, die alles andere als positiv sind. Letzten Endes stellt sich der Aufstieg zum Pass aber als halb so wild heraus - kurz vor 8 Uhr sind wir oben angekommen und vielleicht auf dem höchsten Punkt, den wir in unseren Leben betreten werden. Nachdem wir auf dem Pass das Standard-Programm abgehakt haben (hinsetzen, Fotos machen, Tee trinken), steht noch der vierstündiger Abstieg nach Muktinath an.

Dort angekommen quartieren wir uns im sogenannten Bob-Marley-Hotel ein, das nicht nur mit einer warmen Dusche, sondern auch mit einer westlichen Toilette aufwarten kann. Welch eine Erleichterung. Wir nehmen in Kauf, dass es hier eventuell etwas teurer werden kann als bisher - wir denken, wir haben es verdient, uns selbst mal was zu gönnen. Am Abend ist dann Party angesagt.



Aussicht auf den Pass


Der Abstieg beginnt.




Tag 11: Von Muktinath aus geht es nach Kagbeni (2810 m) - eine kurze, angenehme Wanderung von etwa 3 Stunden durch sehr herbstliche Landschaft. Hier auf der anderen Seite des Passes ist die Vegetation irgendwie ganz anders - mich erinnert sie teilweise sehr stark an den Iran.









Kagbeni

Tag 12: Der letzte Wandertag auf dem Annapurna-Circuit. Wir könnten eigentlich noch ein paar Tage dranhängen; da bei uns beiden aber die Luft raus ist, beschließen wir, die Wanderung in Jomson (2720 m) zu beenden und mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Pokhara zurückzukehren. Die letzten Kilometer, die wir per pedes hinter uns bringen müssen, gehen uns allerdings dann noch gehörlich auf den Senkel - dass wir über weite
Teile durch ein Flussbett wandern müssen, ist zwar ganz nett; aber alles in allem hat dieser Tag landschaftlich wenig Abwechslung zu bieten.

Auch Jomson stößt bei uns beiden auf wenig Gegenliebe. Keine Ahnung, was auf dieser Seite des Thorung-La-Passes los ist - vielleicht sehen die Leute hier mehr Touristen oder vielleicht kriegen sie weniger Sonne ab; jedenfalls fällt uns auf, dass die Nepalesen hier weitaus weniger freundlich sind als auf dem Rest des Treks. Der Mangel an Hilfsbereitschaft (der im Allgemeinen wirklich untypisch ist für die Nepalesen), den wir hier zu spüren bekommen, hat zur Folge, dass es für uns zu einem schweren Unterfangen wird, Infos zu bekommen, wann/wie/wo wir am nächsten Tag einen Bus erwischen können.




Jomson
Notgedrungen verbringen wir einen etwas untätigen Tag in Jomson. Tagsdrauf nehmen wir den Bus nach Pokhara und kehren somit zurück in den Sommer. Der Bus, komplett mit Massagesesseln ausgestattet, transportiert uns innerhalb von knapp 3 Stunden ins 158 Kilometer entfernte Pokhara und entlohnt uns für die Strapazen der letzten 12 Tage. Als wäre das noch nicht genug des Guten, begegnen wir an diesem Tag nur netten, freundlichen und hilfsbereiten Menschen.



Schön wär's...

Ich erspare mir die großen Erklärungen. Das hier war unser Tag 13:

5:20 Uhr: Der Wecker klingelt. Aufstehen, Zähne putzen usw.

5:50 Uhr: Wir verlassen unser Gasthaus und begeben uns auf den Weg zum Abfahrplatz der Busse.

6:10 Uhr: Angekommen am Abfahrplatz. Der eine Pascal stellt sich in eine Reihe, um Bustickets zu kaufen; der andere besorgt in der nahe gelegenen Bäckerei Frühstück.

6:35 Uhr: Tickets sind besorgt. Wir warten auf den Bus.

6:50 Uhr: Der Bus, der uns ins 40 Kilometer entfernte Ghasa bringen wird, ist da. Wir sorgen erst dafür, dass unsere Rucksäcke ordnungsgemäß aufs Dach des Busses gehievt werden und nehmen dann im Bus Platz.

7:30 Uhr: Der Bus fährt ab.

10:30 Uhr: Wir kommen in Ghasa an. Aussteigen, Rucksäcke vom Dach in Empfang nehmen und Tickets für die Weiterfahrt kaufen. Letzteres läuft dann nicht so glatt: Es gibt auf dem Bushof zwar 2 Ticketschalter; allerdings werden an beiden Schaltern keine Tickets verkauft. Ein Ticketverkäufer informiert uns allerdings darüber, dass man im Bus ohne Probleme für die Fahrt bezahlen kann.

11:30 Uhr: Mittlerweile hat sich auf dem Bushof eine ganz ordentliche Menge an Menschen gebildet, die, genauso wie wir, alle den Bus nach Beni nehmen wollen. Ein Bus kommt an - alle stürzen auf ihn los. Während Pascal im Bus für uns 2 Sitze in Beschlag nimmt, stelle ich mich mit unseren 2 Rucksäcken hinter den Bus, damit diese wieder auf dem Dach verfrachtet werden. Irgendwie scheinen die dafür zuständigen Nepalesen mich aber nicht zu mögen - alles Mögliche wird angenommen und oben verstaut, nur unsere 2 Rucksäcke sind anscheinend nicht gut genug dafür.

11:45 Uhr: Mir platzt der Kragen, laut denke ich etwas, was man im amerikanischen Fernsehen wahrscheinlich ausblenden würde, und ich gehe mit den zwei Rucksäcken in den - mittlerweile ziemlich vollen - Innenraum des Busses.

11:50 Uhr: Irgendjemand kriegt spitz, dass wir keine Bustickets haben. Der "Schaffner" des Busses blafft uns an, wie wir es denn wagen könnten, und verlangt, dass wir an dem - wohlgemerkt leeren - Ticketschalter ein Ticket besorgen. Ich nochmal raus, überzeuge mich davon, dass es hier kein Ticket zu kaufen gibt; wieder rein in den Bus, selbe Diskussion: Kauft ein Ticket am Schalter! - Ja, wie denn, du Experte? Letzten Endes werden Pascal, ich und drei andere Reisende, die sich in derselben Situation befinden, unter allgemeinem Gelächter von Bord geworfen. Problem gelöst.

12:00 Uhr: Zusammen mit den drei anderen Pechvögeln warten wir auf den nächsten Bus nach Beni, der Gerüchten zufolge heute noch irgendwann in Ghasa ankommen soll.

13:30 Uhr: Nachdem sich anderthalb Stunden lang nichts getan hat, nehmen wir das Angebot eines Israelis an, mit ihm und einigen anderen Touristen die Kosten für eine Jeepfahrt nach Beni zu teilen.

14:00 Uhr: Nach einigem Hin und Her fährt unser Jeep los - endlich können wir diesem herzlichst unsympathischen Dorf entkommen. So long, suckers!

15:30 Uhr: Zack, bumm, Auto kaputt.

16:45 Uhr: Mit bewundernswerter Ruhe und Abgeklärtheit hat es unser Fahrer geschafft, den Schaden am Wagen zu beheben. Ich muss sagen: Respekt! Weiter geht die holprige Fahrt.

18:00 Uhr: Angekommen in Beni. Zusammen mit den anderen Passagieren besorgen wir uns direkt einen anderen Jeep, um es heute noch nach Pokhara zu schaffen.

20:30 Uhr: Angekommen in Pokhara. Komplett fertig vom Tag und gerädert von der Fahrt.

Und das war der Annapurna-Circuit. Schön war's. Und anstrengend. Aber schön. Mittlerweile ist der eine Pascal wieder nach Belgien zurückgekehrt, während der andere Pascal in Kathmandu auf sein Indien-Visum wartet. Zu erzählen gäbe es noch vieles, zu sagen bleibt allerdings nur Folgendes:

Hunderttausend heulende Höllenhunde! Wir sind Tage und Nächte marschiert! Wir haben haufenweise Felsen erklommen! Wir haben in der Sonne geschwitzt! Jetzt ist Schluss! Ich mach nicht mehr mit! Ich geh' nicht mehr weiter! Verflixt, meine armen Füße! Morgen geht es ihnen hoffentlich besser! ... Gute Nacht, Freunde!

Sie sprechen mir aus der Seele, Herr Kapitän!