Freitag, 12. Februar 2016

Das Gute, Böse und Absurde


Mysore, Tag 211 der Weltreise. Ein ganz typischer Tag auf Reisen in Indien:

Nach dem Aufstehen und Frühstück habe ich zunächst vor, ein Paket nach Hause zu schicken. In meinem Hostel erfrage ich, wo sich in Mysore das hierfür zuständige Postamt befindet. Anscheinend ist es nicht allzu weit entfernt, also beschließe ich, zu Fuß dorthin zu gehen. Es stellt sich allerdings recht schnell heraus, dass die Wegbeschreibung, die ich im Hostel erhalten habe, nur auf Halbwissen basierte; und als ich mehrere Passanten nach dem Weg frage, bekomme ich natürlich die verschiedensten Wegbeschreibungen. Als ich dann nach einer halben Stunde ein Postamt erreiche, stellt sich heraus, dass diese Filiale keine Pakete versenden kann - dafür muss ich zum "Main Post Office" am anderen Ende der Stadt. Also erst mal zurück zum Hostel und dann weiterschauen.

Nachdem ich dort endlich herausgefunden habe, wo ich tatsächlich hinmuss, werde ich an der Rezeption des Hostels von einem Tuktuk-Fahrer angesprochen. Für 100 Rupien bietet er mir an, mich durch die Stadt zu verschiedenen Sehenswürdigkeiten zu fahren. Super, denke ich, wenn er mich in einem noch zum Main Post Office bringen könnte, wäre das natürlich perfekt. Ich steige also in seine Rikscha, los geht die Fahrt. Aber natürlich habe ich mir das Ganze viel zu einfach vorgestellt. Er versucht, mich dazu zu drängen, mich von ihm zu mehreren Läden sowie zu seinem Coffee Shop bringen zu lassen, ich habe darauf aber einfach keine Lust. Ich will einfach nur das Paket nach Belgien schicken und mir danach noch den Palast der Stadt anschauen, aber das passt wohl nicht so ganz in seine Pläne. Es entfacht Leidige-Diskussion-mit-einem-Tuktuk-Fahrer Nummer dreihundertzweiundsiebzig, an deren Ende ich - zumindest vor dem Main Post Office - von Bord geworfen werde. Gratis-Fahrt, korrekt.

Das Paket zu versenden dauert auch wieder eine gute Stunde. Ich werde in mehrere Büros geschickt, muss einige Formulare ausfüllen und alle möglichen Angaben zum Inhalt und Empfänger der Lieferung machen. Anschließend muss ich dann noch zu einem Schneider, der mir das Paket einnäht und versandtfertig macht. Danach bin ich natürlich immer noch nicht fertig, denn jetzt lädt der Schneider mich auf einen Tee und ein Samosa ein. Also bleibe ich noch eine weitere halbe Stunde zu nett dahinplätscherndem Small Talk bei ihm.

Der Palast in Mysore
Daraufhin gehe ich zu Fuß zum nicht allzu weit entfernten Palast und schaue ihn mir von draußen und innen an. Hübsch, hübsch. Während ich untätig mit meinem Fotoapparat vor dem Palast stehe, werde ich von einem indischen Pärchen angesprochen, ob ich ein Foto von ihnen mit dem Palast im Hintergrund machen kann. Natürlich bin ich so nett, frage die beiden dann, ob sie auch mit meinem Fotoapparat ein Foto von mir mit dem Palast machen können, danach wollen die natürlich auch auf ihrem Handy ein Foto von mir, und ein Foto von ihm mit mir und von ihr mit mir, und bevor ich mich versehe, haben wir alle etwa 20 Bilder voneinander geschossen.

Auf dem Rückweg zum Hostel besorge ich mir für 15 Rupien (etwa 20 Cent) eine Kokusnuss, die ich zuerst austrinke und dann per Machete ausschlachten lasse. Ich gehe weiter in Richtung Hostel und umgehe dabei eine große Pfütze, als ein Auto hupt und dann voll da durchbrettert, und den Rest könnt ihr euch auch so vorstellen, und ich so AAAARRRRGGGGHHHH!!!! oder so ähnlich, und hinter mir fällt einer vor Lachen fast von seinem Moped.

Ein paar etwas weniger ereignisreiche Stunden später gehe ich dann noch in einem Straßenrestaurant für gute 50 Cent zu Abend essen. Allem Anschein nach harpert es aber noch mit meiner Esstechnik, sodass sich jemand meiner erbarmt und anfängt, mit seinen Fingern in meinem Essen rumzurühren, ich nehme an, um mir zu zeigen, wie man's richtig macht. He da, Finger weg! Das ist mein Masala Dosa!

Jawohl, immer noch Indien. Das Gute, das Böse und das komplett Absurde halten sich immer noch die Waage, und meine Stimmung kippt nach wie vor regelmäßig von Ich liebe Indien auf Ich hasse Indien. Mehrmals am Tag, jeden Tag. Aber eines muss man dem Land, mit seinen großen und kleinen Verrücktheiten lassen: Es wird niemals langweilig. Mit dem Tuktuk durch den unglaublich dichten indischen Stadtverkehr zu fahren ist immer noch so spannend wie ein Krimi, von irgendwelchen Passanten um ein Selfie gebeten zu werden immer noch ebenso schräg wie lustig, die lokale Küche hat immer noch Überraschungen parat, und habe ich schon erwähnt, wie unglaublich billig hier alles ist? Ist nämlich alles unglaublich billig hier.

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Bangalore
Noch mal einige Tage zurück. Nach einer eher ruhigen Zeit in Hampi begebe ich mich per Nachtbus nach Bangalore, wo ich eine ehemalige, mittlerweile hier wohnhafte Cokotteuse besuche, die bis hierhin als meine wichtigste Ansprechpartnerin in Indien-Fragen fungiert hat (noch mal danke hierfür). Bangalore, eine der größten Städte im Süden Indiens, hat in puncto Sehenswürdigkeiten nicht viel zu bieten, ist allerdings im Vergleich zu anderen indischen Städten überraschend westlich. Was der Stadt an Sehenswürdigkeiten und allgemeinem Charme fehlt, macht sie durch Bars und Restaurants wett. Und plötzlich ist in Indien eine per App bestellte Taxifahrt eine ernstzunehmende Alternative zum ständigen Preisverhandeln mit diversen Rikschafahrern, und auch Englisch ist hier kein Problem - sofern man mit dem ziemlich gewöhnungsbedürftigen indischen Akzent zurecht kommt. So kommt es, dass ich hier ein sehr nettes, eher unidisches Wochenende verbringe. Ein persönlicher Eindruck noch: Bangalore schafft es bei mir, sich gegen die sehr starke Konkurrenz (Istanbul, Teheran, Kathmandu, Varanasi, Delhi, Mumbai) durchzusetzen, und bekommt von mir den Pascals-Weltreise-Preis für die Stadt mit dem schrecklichsten Verkehr verliehen. Herzlichen Glückwunsch, Bangalore, du hast es dir verdient.

Bangalore, Tag 210 der Weltreise. Ein klassisches Reisen-in-Indien-Missverständnis:

Heute habe ich vor, weiterzureisen nach Mysore. Ich verlasse die Wohnung meiner Gastgeber im Süden der Stadt am späten Vormittag. Schnell kann ich ein Tuktuk zum Busterminal klären. Der Fahrer fragt noch mal nach, wohin ich den Bus nehmen will - Mysore? Kein Problem. Die Fahrt dauert ziemlich lang und kostet mehrere hundert Rupien, und bald habe ich ein seltsames Gefühl bei der Sache. Dieses Gefühl bestätigt sich, als ich am Terminal aus dem Tuktuk steige und erkennen muss, dass mein Fahrer mich vom Süden quer durch die Stadt in den Norden gefahren hat - während das Busterminal für die Busse nach Mysore irgendwo im Süden ist. Also nehme ich einen Bus zum richtigen Terminal, der wieder quer durchs Zentrum dieser Millionenmetropole und den entsprechend schleppenden Straßenverkehr fährt. Ganze drei Stunden, nachdem ich die Wohnung meiner Gastgeber verlassen habe, kann ich endlich die zweistündige Fahrt nach Mysore antreten. AAAARRRRGGGGHHHH!!!!

Weiter geht es also nach Mysore. Ebenso wie Bangalore liegt diese Stadt im Staat Karnataka; während allerdings in Bangalore der IT-Sektor ganz groß ist, ist Mysore bekannt für Seide, Sandelholz, Weihrauch, Yoga und Ayurveda. Will heißen: Mysore ist die weitaus typischere (süd-)indische Stadt. Mysores Highlight ist ganz klar der im frühen 20. Jahrhundert erbaute Stadtpalast, der sowohl innen als auch außen alle möglichen architektonischen Stile mischt. "If you haven't been to Mysore, you just haven't been to South India", sagt der Lonely Planet. Ich sage: Kann man sich anschauen, muss man aber nicht.

In meinem Hostel lerne ich ein deutsches Pärchen kennen, mit dem ich tagsdrauf weiterziehe, und zwar in den Wayanad-Distrikt im Staat Kerala. Bereits die Busfahrt ist vielversprechend: Je weiter wir uns von Mysore entfernen, umso grüner und üppiger wird die Vegetation. Und als wir erst einmal in Kerala sind, bekommen wir aus dem Bus tatsächlich einen großen Elefanten mit einem Elefanten-Baby in freier Laufbahn zu sehen. Wir kommen unter in einem etwas abgelegenen Hostel, auf dessen Dachterrasse wir abends den Sonnenuntergang über dem unendlich wirkenden Palmenwald und die relative Stille genießen. Statt des üblichen Verkehrlärms sind es hier endlich mal die Geräusche verschiedener Dschungeltiere, die die hiesige Klangkulisse prägen - sowie die Anlage, die jemand einige hundert Meter weiter voll auf Anschlag laufen lässt. Vollkommen still ist es in Indien wohl nie.

Der nächste Tag. Unsere heutige Mission: Mehr von den Elefanten sehen. Hierfür müssen wir früh morgens aufstehen und per Moped/Motorrad die 30 Kilometer zum Elefantenreservat hinter uns bringen. Leider haben wir das Klima nicht wirklich einkalkuliert - das hier ist nicht Goa oder Hampi, nachts wird es richtig kalt. Als wir am Reservat ankommen und von unseren Bikes steigen, fühlen wir alle drei uns erst mal wie lebende Eiszapfen. Dafür entschädigt dann aber die Safari, auf der wir mehr als einen wilden Elefanten zu sehen bekommen. Siehe Fotos.

Aussicht auf Ooty
Tagsdrauf fahren wir drei dann weiter, in den Staat Tamil Nadu. In einer Stadt mit dem unaussprechbaren Namen Udhagamandalam (Kurzform: Ooty) trennen sich unsere Wege wieder: Meine mehrtägigen Reisepartner ziehen weiter Richtung Osten, während ich vorhabe, einige Tage in Ooty zu verbringen. Ooty wird gemeinhin als "Queen of Hill Stations" verkauft. Hill Station kurz erklärt: Als die Briten Indien kolonialisierten, fanden sie das Klima hier zu heiß. Deshalb bauten sie in den höheren Gegenden, wo es etwas kühler war, kleine Städte. Und das sind die Hill Stations. Ooty hat unter diesen Hill Stations also einen ganz besonderen Status, liegt in einer sehr schönen Umgebung und produziert Gewürze und sehr leckere Schokolade. Es gilt als ein Ort, wo man gut wandern bzw. herumspazieren und die Natur genießen kann.

Was nicht im Reiseführer steht: Ooty ist ein totales Drecksloch. Tatsächlich gibt es mit der Ausnahme von Allahabad keinen Ort in Indien, der mir so wenig gibt wie Ooty. Man könnte sich die "Queen of Hill Stations" ja irgendwie als ruhiges, gemächliches, angenehmes, sauberes und idyllisches Happytown vorstellen; aber ich wage zu bezweifeln, dass es so etwas irgendwo in diesem Land gibt. Das Stadtzentrum ist gelinde gesagt einfach nur scheußlich, der Straßenverkehr genau so lästig wie sonstwo und die tatsächlich sehr schöne Umgebung zu genießen erscheint als überraschend schwieriges Unterfangen. Selbst im örtlichen Tourism Office scheint Ratlosigkeit zu herrschen, was irgend jemand an diesem Ort nur finden kann:

Stadtplan?
Fehlanzeige.
Was kann man hier denn machen? A la wandern oder so...?
10 Kilometer der Hauptstraße entlang gehen.
Und sonst so?
10 Kilometer der Hauptstraße entlang gehen - in die andere Richtung. Und eine Kirche gibt es hier auch.
Okay, danke... Wann fährt denn der nächste Bus aus der Stadt weg?

Teeplantagen außerhalb Munnars
Ich verkürze meinen Aufenthalt in Ooty also drastisch und begebe mich am nächsten Tag nach Munnar. Von einer Hill Station zur anderen - von Tamil Nadu zurück nach Kerala. Munnar liegt mit dem Bus 11 Stunden weiter südlich und hat tatsächlich all das zu bieten, was ich in Ooty nicht gefunden habe. Das Stadtzentrum ist zwar nicht sehr viel weniger laut und nervenaufreibend, aber dafür kann man hier tatsächlich sehr gut dem Stadtchaos entfliehen und durch die endlos wirkenden Teeplantagen wandern. An einem Tag mache ich mit einigen anderen Reisenden eine geführte Wanderung mit. Es ist zwar etwas beunruhigend, wie viele Tiere uns laut unserem Wanderführer hier in der Wildnis beißen, stechen, vergiften, aufessen oder tottrampeln könnten; aber wir bekommen auch eine ziemlich interessante Einleitung ins Fährtenlesen und erfahren auch ansonsten einige Dinge über Munnar und das Überleben im Dschungel.

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Munnar, Tag 219 der Weltreise:

Ich habe meinen Blogeintrag so gut wie fertig geschrieben und gehe in einem Straßenrestaurant gegenüber von meinem Gasthaus zu Abend essen. Der Laden hat Kapazität für 20 Gäste. Niemand da außer mir und den vier Kellnern, die gebannt auf den sehr lauten Fernseher starren, auf dem ein sehr trashig anmutender Actionfilm läuft. Definitiv kein Restaurant für ein erstes Date. Nach einigem Rumwinken nimmt mich einer der Kellner wahr. Ich frage nach der Speisekarte - ratlose seitliche Kopfbewegung. Ich frage noch mal nach - zustimmende seitliche Kopfbewegung. Er bringt mir die Karte - es stellt sich aber bald heraus, dass von dem hier Verzeichneten nichts zu haben ist. Ich kann aber ein Aloo Masala mit zwei Parotta bestellen. Nach ein paar Minuten ist mein Abendessen dann auch da. Das mit den Händen habe ich immer noch nicht richtig drauf - rechts fürs Essen, links für... andere Dinge; nicht so einfach wenn man mit Löffel und Gabel erzogen wurde. Auf dem Bildschirm wird jemand gerade zu herzzerreißender dramatischer Musik in Slow Motion erschossen, aber die Aufmerksamkeit der Kellner ist futsch. Stattdessen haben sie sich mir zugewandt - und starren gebannt auf mich und meinen Teller.

(knapp 70 Cent)

Palast in Mysore

Wayanad

Dasselbe am Tag




Munnar

Landschaft um Munnar